Linguist Hans Beelen hat die Tagebuchaufzeichnungen einer niederländischen Arktisexpedition sprachlich
analysiert und viele Besonderheiten gefunden. Nun hat er sich auch vor Ort auf die Spuren der Überwinterer begeben.
Das Stiefeltal, den Mammutgletscher oder den Xanthoria Felsen, auch roter Felsen genannt – diese Orte auf der Insel Edgeøya kennt Ko de Korte gut. Der niederländische Arktisexperte hat sie selbst vor mehr als 50 Jahren erkundet. Von September 1968 bis August 1969 überwinterte er als Student gemeinsam mit drei weiteren jungen Niederländern auf der drittgrößten Insel des norwegischen Archipels Spitzbergen.
In diesem Sommer kehrte der inzwischen fast 80-Jährige anlässlich einer Arktisexpedition der Universität Groningen an die ihm bekannten Orte zurück. Er begleitete Hans Beelen vom Oldenburger Institut für Niederlandistik, dem zuvor vor allem die Namen der Orte auf Edgeøya vertraut waren. Der Linguist widmet sich der Sprache, die die Teilnehmer der damaligen Arktisexpedition während ihres isolierten Lebens auf der Insel verwendeten – als sie Eisbären erforschten und sich die Insel geografisch erschlossen.
Denn wie damals auf Expeditionen in die – aus europäischer Sicht – entlegenen Regionen der Welt üblich, verfassten auch die vier Biologen während ihrer Zeit am sogenannten Kapp Lee auf Edgeøya ein Tagebuch. In diesem hielten sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse fest. Und sie beschrieben Details ihres Alltags, etwa welche Lebensmittel sie verzehrten, ob jemand aus der Gruppe krank war oder welche Orte sie regelmäßig aufsuchten. Bezeichnungen wie „Stövlardalen“ (Stiefeltal) oder „Mammuth gletsjer“ (Mammutgletscher) finden sich immer wieder in ihrer Niederschrift.
Kreative Wortschöpfungen
Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sind die Aufzeichnungen ein Glücksfall. Denn die Wörter und Redewendungen, die die vier Männer in ihrem Alltag verwendeten und die sich im Tagebuch wiederfinden, tragen viele Besonderheiten. „Im Laufe der Zeit entwickelte die Gruppe eine ganz eigene Sprache“, erläutert Beelen, der sich schon lange mit ähnlichen historischen Dokumenten beschäftigt und im Zuge dieser Arbeit auf das Tagebuch der niederländischen Arktisexpedition gestoßen war.
Die Wortschöpfungen der Forscher waren kreativ: Um sich in dem weitgehend unbekannten Terrain orientieren zu können, dachten sie sich Bezeichnungen für die noch namenlosen Orte aus. Das Stiefeltal bezeichneten sie nach dem Hersteller der schwedischen Stiefel (Graninge stövlar), die sie auf ihren Erkundungstouren trugen. Der Mammutgletscher erhielt seinen niederländischen Namen, weil einer der Expeditionsteilnehmer geträumt hatte, unter den Schneemassen sei ein Mammut begraben. Und den Xanthoria Felsen, Englisch „Xanthoria rock“, bezeichneten sie nach einer Flechte, die Gestein rot leuchten lässt.
Die jungen Männer verwendeten zudem scherzhafte Bezeichnungen für Dinge, die sie täglich nutzten. Der „haardstoel“ (Herdstuhl) war ein Walknochen, der als Sitzgelegenheit am Kaminofen diente. Den ersten Eisbären, den die Forscher beobachteten, tauften sie „Barend“ – und spielten damit auf eine populäre niederländische Kinderfernsehserie an. Es gab auch „Running Gags“: Sagte jemand, er müsse in die „kerk“ (Niederländisch für „Kirche“), so meinte er den Gang zur Toilette. Denn ursprünglich nutzte die Gruppe eine achteckige Trapperhütte, die sogenannte Kirche, als stilles Örtchen.
„Sprache ist ein flexibles Instrument”
Ob Abkürzungen, Wortneuschöpfungen oder das Vermischen verschiedener Sprachen: Die kleinen Änderungen in der Ausdrucksweise, die sich durch das Tagebuch ziehen, seien wie ein Mikrokosmos dessen, was menschliche Sprache auszeichnet, sagt Beelen – nämlich, dass sie sich in kleinen Schritten ändert. „Sprache ist ein flexibles Instrument, und das zeigt sich exemplarisch in dieser Gruppensprache“, sagt er. Und nicht nur das: Die Sprache, die de Korte und seine Kollegen selbst schufen, habe auch die wichtige Funktion erfüllt, die Herausforderungen des Alltags in der Arktis zu bewältigen, betont der Linguist. So schaffe Sprache ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Und selbst Witze seien in schwierigen Situationen (wohl) überlebenswichtig gewesen – denn sie halfen, Spannungen zwischen den einzelnen Expeditionsteilnehmern abzubauen.
All dies, erläutert Beelen, lasse sich aus den Aufzeichnungen der Forscher herausarbeiten. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse hat er inzwischen in einem Buch zusammengefasst. In „Een jaar bij de ijsberen“, das Ende November 2022 erschienen ist, macht er die historischen Dokumente der niederländischen Arktisexpedition und seine linguistischen Analysen zugänglich.
Dass er neben seiner sonst eher theoretischen Arbeit die Gelegenheit erhielt, die Orte des Geschehens auf Edgeøya gemeinsam mit einem Zeitzeugen selbst in Augenschein zu nehmen, verdankt Beelen der diesjährigen Groninger Arktisexpedition SEES (Scientific Expedition East Spitsbergen). „Als ich davon hörte, dass die Universität Groningen eine Expedition nach Spitzbergen plant, habe ich mich um einen Platz beworben“, berichtet er. Er erhielt den Zuschlag.
Vor Ort sind viele Spuren verwischt
So reiste er gemeinsam mit Ko de Korte nach Spitzbergen, um nachvollziehen zu können, wie die im Tagebuch erwähnten Ortsnamen zustande gekommen waren. „Ko und ich haben schon oft zusammengesessen. Aber es war toll, längere Zeit mit ihm zu verbringen, in unseren Gesprächen Details und fast vergessene Erinnerungen wiederzubeleben und endlich all die Orte zu sehen, deren Namen ich schon kannte“, sagt Beelen. Neben der faszinierenden Landschaft sei er beeindruckt gewesen zu erfahren, welche langen Strecken die Forscher Ende der 1960er Jahre auf der Insel zurückgelegt hatten.
Doch vor Ort, auch das konnte Beelen beobachten, sind viele Spuren der Expedition verwischt. Das Gebäude wurde abgerissen, der Klimawandel hat die Gletscher schrumpfen lassen. Und die sprachlichen Spuren sind jenseits des Tagebuchs nicht mehr zu finden. Zwar schlugen die niederländischen Forscher nach ihrer Rückkehr dem norwegischen Polarinstitut einige ihrer Ortsnamen vor. Doch ohne Erfolg. Nach dem Stiefeltal oder dem Xanthoria Felsen sucht man auf den offiziellen Karten Spitzbergen vergebens.