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apl. Prof. Dr. Heinrich Ricking

Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik

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  • Es gibt viele Gründe fürs Schulschwänzen. Einige Kinder verweigern die Schule aus Angst vor Lehrern oder Mitschülern – manchmal liegt es aber auch an den Eltern. Oldenburger Forscher untersuchen dieses Phänomen. Foto: AdobeStock/Rido

  • Sonderpädagoge Prof. Dr. Heinrich Ricking. Foto: Universität Oldenburg

Eine Frage der Perspektive

Jahrzehntelang war Schulabsentismus ein Tabu-Thema. Inzwischen hat sich die Perspektive verändert, viele Schulen stellen sich dem Problem. Entscheidend dazu beigetragen hat Heinrich Ricking vom Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik.

Jahrzehntelang war Schulabsentismus ein Tabu-Thema in der Bildungslandschaft. Inzwischen hat sich die Perspektive verändert, viele Schulen stellen sich dem Problem. Entscheidend dazu beigetragen hat Heinrich Ricking vom Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik.

Heute steht für die Neuntklässler Sport auf dem Stundenplan und damit Fußball – nicht unbedingt die Lieblingssportart der 14-jährigen Laura und ihrer Klassenkameradin Pia. Klammheimlich machen sie sich aus dem Staub und treffen sich mit Freunden in einem Café. Was bei vielen Eltern einen Sturm der Entrüstung auslösen würde, bringt Prof. Dr. Heinrich Ricking vom Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik nicht aus der Ruhe: „Wir wissen, dass die Hälfte aller Sekundar-1-Schüler in Erwägung zieht, ohne Grund zu fehlen – da werden auch schon mal zwei Stunden geschwänzt. Aber diese Schüler bereiten uns kein Kopfzerbrechen, sondern die drei bis fünf Prozent, die regelmäßig fehlen.“ Experten sprechen von gewohnheitsmäßigen, chronischen und habitualisierten Formen des Schulabsentismus. „Es besteht die große Gefahr des Dropouts, also, dass diese jungen Menschen in die soziale Randständigkeit geraten“, erklärt Ricking. Studien belegen, dass die Lebensperspektive notorischer Schulschwänzer düster aussieht: Wer schafft es schon, ohne Schulabschluss Fuß zu fassen? Die berufliche Integration gestaltet sich schwierig, die Wahrscheinlichkeit für die Erhöhung der Kriminalitätsrate steigt ebenso wie für den Drogenkonsum, die Gesundheit leidet, die Zukunftschancen sind beschränkt. „Deshalb müssen wir Schulabsentismus nicht nur im schulischen Kontext sehen, sondern in einem biografischen Lebensentwurf“, fordert Ricking.

Drei Formen von Schulabsentismus

Wissenschaftler unterscheiden auf internationaler Ebene drei Formen des Schulabsentismus: Da gibt es das notorische Schulschwänzen, die angstbedingte Meidung des Unterrichts und das Zurückhalten der Schüler durch die Eltern. „Die ersten beiden Formen sind bereits gut untersucht und der Löwenanteil entfällt auf die Schulschwänzer“, erklärt Ricking. Das Phänomen des Zurückhaltens lag bislang im Dunkeln, weil sich kaum jemand vorstellen konnte, dass es weit verbreitet ist. Wissenschaftler gingen lange davon aus, dass Eltern ein großes Interesse an der Bildung ihrer Kinder haben müssten. „Aber in unseren Studien haben wir immer wieder mit Mädchen und Jungen gesprochen, die erwähnten, dass ihre Eltern sie nicht in die Schule lassen“, erzählt Ricking. Die Gründe sind seinen Untersuchungen zufolge vielfältig: Manche Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder in Sexualkunde oder Religion unterrichtet werden, oder sie stehen dem System Schule kritisch gegenüber. Andere hingegen benötigen angeblich die Hilfe ihrer Kinder im Haushalt oder es ist ihnen schlichtweg egal, ob der Nachwuchs die Schule besucht. „Ein Themenstrauß an Beweggründen“, resümiert Ricking. Den haben er und Kollegen vom Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik sowie für Pädagogik in den vergangenen Jahren intensiv untersucht. Herausgekommen ist dabei 2018 das bundesweit bisher einzige Buch zu dem Thema. Ricking hat es gemeinsam mit Karsten Speck, Professor für Forschungsmethoden der Erziehungs- und Bildungswissenschaften am Institut für Pädagogik, herausgegeben: „Schulabsentismus und Eltern“, eine Zusammenfassung der internationalen Forschung. „Wir haben nicht alle Fragen beantworten können, aber wir haben einen Anstoß gegeben, sich intensiver mit der Rolle der Eltern auseinanderzusetzen.“ Ein Beispiel, das zeigt, dass Schulabsentismus eine multikausale Angelegenheit ist.

Forschungszweig etabliert

Das Thema beschäftigt den 53-jährigen Sonderpädagogen schon seit Jahrzehnten: Im Studium, Anfang der 1990er Jahre, jobbte er an einer Schule für schwererziehbare Kinder. Damals entdeckte er mitten in einem Maisfeld eine Gruppe Jugendlicher, die es sich dort gemütlich gemacht hatte, statt im Klassenraum zu lernen: „Ich wollte einfach nachvollziehen, was sie dazu bewegt hat“, sagt Ricking. Es war gewissermaßen die Initialzündung für einen Forschungszweig, der bis dahin in Deutschland brach lag, denn bis Anfang 2000 war Schwänzen als Thema mehr oder minder tabu. „Manche Schulen behaupteten, das Problem sei bei ihnen nicht existent, andere gaben den Eltern die Schuld. Die wiederum machten die Schulen verantwortlich“, erinnert sich Ricking. Grund genug für den damaligen Lehrer und Forscher, genauer hinzuschauen. Seine internationale Bestandsaufnahme „Schulabsentismus als Forschungsgegenstand“ im Jahr 2003 brachte den Stein in der deutschen Bildungslandschaft ins Rollen. Inzwischen hat sich die bildungspolitische Perspektive deutlich verändert. Entscheidend dazu beigetragen hat unter anderem auch das Buch „Schulabsentismus und Drop-out“, das Ricking gemeinsam mit seinen Institutskollegen Prof. Dr. Gisela Schulze und Prof. Dr. Manfred Wittrock geschrieben hat. „Die Schulen stellen sich endlich dem Problem“, so der Wissenschaftler. Auch auf institutioneller, rechtlicher und Forschungsebene habe sich viel getan. „Und erst, wenn man ein Problem benennt, lässt es sich angehen und lösen“, sagt Ricking.

Im Zuge dieser neuen Offenheit hat sich sein Forschungsfokus verschoben: Während er anfänglich die Formen des Schulabsentismus im Blick hatte, beschäftigt er sich heute mehr und mehr mit der Intervention und Prävention: Was können Schulen aktiv tun, um Kinder und Jugendliche im Unterricht zu halten? „Tatsächlich eine ganze Menge – auch wenn manche Schulen das anders darstellen“, sagt Ricking. So gibt es Studien, in denen formgleiche Schulen im selben Einzugsgebiet untersucht wurden – allerdings unterschieden sie sich erheblich in den Anwesenheitsquoten.

Warnzeichen erkennen

Auf der Suche nach Ursachen arbeitet Rickings Team seit Mitte des Jahres im Auftrag der Joachim Herz Stiftung und Alfred Toepfer Stiftung mit sechs Hamburger Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen zusammen. Im Kern geht es darum, die Prozesse zu begreifen, die Jugendliche  vom Schulbesuch abhalten. „Eine derart schulaversive Haltung entwickelt sich nicht über Nacht, sondern über Jahre und beginnt manchmal schon in der Grundschulzeit“, erklärt Ricking. Vielen der betroffenen jungen Menschen mangelt es im Elternhaus, im Freundeskreis und in der Schule an Wertschätzung und Anerkennung. Der wirkungsmächtigste Risikofaktor ist dabei laut Ricking das Schulversagen: Kinder, die häufig schlechte Noten haben und sich mit den Lehrern nicht verstehen, gehen ungern zur Schule. „Und wenn diese Kinder mit 13 oder 14 Jahren eine eigene Autonomie entwickeln und Freunde in die gleiche Kerbe schlagen, entsteht schnell die Bereitschaft, die Schule zu schwänzen“, erklärt Ricking. Statt zu warten, bis sich die Problematik voll entwickelt hat, müsse man deshalb die Warnzeichen frühzeitig erkennen – auch darum gehe es in dem Hamburger Projekt: „Wir probieren Maßnahmen aus, evaluieren sie und messen die Wirkung – und zwar in enger Abstimmung mit der Lehrerschaft“, erklärt Ricking. Er erhofft sich davon Positivbeispiele, die andere Schulen davon überzeugen, sich mehr für Prävention und Intervention zu engagieren, um Schüler vor einem Dropout zu bewahren.

Digitales Klassenbuch als Chance?

Eine Chance sieht Ricking im digitalen Klassenbuch – und zwar nicht allein, um Lehrern die schulische Arbeit zu erleichtern und analoge Arbeitsschritte zu ersparen. Sondern um frühzeitiges Fehlen zu registrieren und schneller handeln zu können. 

Dass diese Maßnahme funktioniert, hat Ricking in einer Monitoring-Studie in einer Modellschule in Großbritannien beobachtet. Dort ist eine Halbtagskraft ausschließlich dafür zuständig, Fehlzeiten zu erfassen und die Reaktionen der Schule zu koordinieren. Jede Lehrkraft muss morgens ins digitale Klassenbuch eintragen, wer nicht erschienen ist. Alle Daten laufen auf dem Rechner der Mitarbeiterin zusammen, die die entsprechenden Informationen auf die Smartphones der Eltern weiterleitet. „Das heißt, bereits um kurz nach Neun wissen nicht nur die Eltern Bescheid, sondern es gibt eine aktuelle Übersicht der Fehlzeiten des Tages – von jedem einzelnen Schüler“, erklärt Ricking. In Deutschland sieht die Situation anders aus: „Viele Schulen haben nicht einmal den Überblick über ein Jahr“, kritisiert der Forscher. Grundsätzlich werde hierzulande zu wenig aus vorhandenen Daten gemacht. „Das ist sehr bedauerlich, weil die Daten die Voraussetzung sind, um eine gute Präventions- und Interventionsarbeit aufzubauen“, so der Oldenburger. 

Der Wissenschaftler ist sich sicher, dass in den nächsten Jahren einiges passieren muss, damit die Schulverweigerer-Quote nicht steigt – auch vor dem Hintergrund, dass Klassengemeinschaften immer heterogener werden: „Nur wenn alle Beteiligten vor Ort gut zusammenarbeiten, können Schüler bestmöglich auf ihrem Bildungsweg begleitet werden.“ Oft dauert es eine Weile, bis die Forschungsergebnisse der Oldenburger Sonderpädagogen einen Effekt auf den schulischen Alltag haben. Trotzdem konnte Ricking schon viel bewegen. Seine Vision: „Eine Schule, die jeder gern besucht – vom Schüler mit einer geistigen Behinderung bis zum Hochbegabten. Und dabei wollen wir eine Hilfestellung geben!“

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