Es ist die Gewißheit der Wahrheit, die nicht handgreiflich ist, der helle Raum, der uns aufnimmt: ganz gewiß aus der Überlieferung, ganz gegenwärtig, wenn das gute Wort eines Freundes uns trifft.“ Dies schreibt einer der großen deutschen Denker des 20. Jahrhunderts, Karl Jaspers, im Dezember 1945 an Hannah Arendt, die bereits 1933 vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland geflohen und später in die USA emigriert war.
Anders als seine Schülerin, die als deutsche Jüdin ins Exil ging, hoffte Jaspers, noch sein Wort in die Waagschale werfen zu können. Das hatte Folgen: Wegen der jüdischen Herkunft seiner Frau wurde er 1937 in Heidelberg als Hochschullehrer zwangspensioniert und lebte sieben Jahre in der inneren Emigration – von ehemaligen Weggefährten und der Öffentlichkeit gemieden. Nach dieser dunklen Zeit war „Jaspers überwältigt von dem Neuaufleben der Freundschaft mit Arendt durch die Korrespondenz“, sagt der Leiter des Oldenburger Karl Jaspers-Hauses, Prof. Dr. Matthias Bormuth.
Vom Psychiater zum politischen Philosophen
Die Korrespondenz brachte den Philosophen erstmals mit den Ideen US-amerikanischer Denker in Berührung, die Arendt kannten und Besatzungsoffiziere waren. So erfuhr er, dass Wissenschaftler in den USA über die Soziologie von Max Weber forschten, der Jaspers‘ Freund und Vorbild gewesen war. Eine solche Forschung war nach 1933 in Deutschland nicht mehr möglich gewesen. „Jaspers war so einer der ersten, der nach dem Krieg die liberale USA gerade auch politisch als neue Möglichkeit begriff“, erläutert Bormuth. Er gehöre damit zentral zur Wissenschafts- und Philosophiegeschichte der jungen Bundesrepublik.
Dies war Grund genug, den Nachkriegsbrief an Arendt in den Band aufzunehmen, der 2019 anlässlich des 50. Todestags des Denkers erschienen ist. „Leben als Grenzsituation“ heißt das Buch, in dem Bormuth entlang von Briefen Jaspers' Lebensweg und intellektuelle Biografie nachzeichnet – vom Psychiater über den Existenzphilosophen bis zum politischen Philosophen, der das gesellschaftliche und politische Leben in der Bundesrepublik kritisch begleitet.
Der Band versammelt 68 Briefe an Psychiater, Philosophen oder Literaten. Unter den Korrespondenzpartnern sind Martin Heidegger, Golo Mann oder Albert Schweitzer – aber auch psychiatrische Freunde und seine Eltern. Hinzu kommen Tagebucheinträge. Kurze Einführungen liefern den Kontext, in dem die Briefe und Aufzeichnungen entstanden sind. Insgesamt hat Bormuth aus einem Fundus von rund 3.000 Seiten bereits erschienener, kritischer Editionen von Jaspers‘ Briefen geschöpft und so einen biografischen Abriss zusammengestellt, der exemplarische Synthesen wichtiger Lebensmomente zu bieten versucht.
Philosophische Ideen sind in jedem Leben relevant
Die so erzählte Biografie von Jaspers ist dabei für Bormuth zugleich eine Form von Geschichtsschreibung. „Das Buch ist wie ein Modell, das die Wirklichkeit des Philosophen und sein Denken darstellt – beeinflusst von der Zeit, von den Gesprächspartnern und seiner Persönlichkeit“, sagt er. Als Ideenhistoriker will Bormuth den Philosophen mit seiner Ideenwelt so in der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte einzeichnen.
Besonders faszinierend seien in dieser Hinsicht die in dem Band enthaltenen Tagebucheinträge aus der Jugendzeit von Jaspers und den frühen 1940er-Jahren, sagt Malte Unverzagt, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Karl Jaspers-Haus: „Sie zeigen Jaspers Selbstzweifel und seine Versuche, sich gedanklich darüber klarzuwerden, wie er sich in Extremsituationen zu verhalten habe.“ Dazu gehörte auch der mögliche Selbstmord, den Jaspers in den Jahren des Zweiten Weltkriegs in Erwägung zog, falls er und seine Frau von den Nazis deportiert werden sollten.
Es sind Extremsituationen wie diese, die das Denken des Philosophen geprägt haben. Den Begriff „Grenzsituation“ hatte Jaspers in seiner 1919 erschienenen „Psychologie der Weltanschauungen“ erstmals verwendet. „Das ist eines seiner Grundanliegen: Wie kann man in einer entzauberten Welt überhaupt einen Sinn in seinem Leben erfahren“, sagt Bormuth. Entsprechend würden sich innere und äußere Grenzsituationen wie Jaspers' früh diagnostizierte Lungenkrankheit oder die Erfahrungen im Nationalsozialismus und die Schuldfrage nach 1945 als roter Faden durch die Briefe ziehen.
Zuspitzungen nachvollziehen
Jaspers habe mit dem Konzept der Grenzsituationen die geistige Lage seiner Zeit aufgegriffen, die für ihn den Gedanken der Existenz des Menschen und wie dieser sich an einer höheren Wahrheit orientiert mitbrachte. Erst in Krisen frage der Mensch nach einem ihn tragenden Sinn. Sich in Jaspers' Sinne mit Ideen zu beschäftigen, führe den Ideenhistoriker notwendig auch zu anderen Intellektuellen, die in Grenzsituationen hineingeraten seien oder diese gesucht hätten.
„Vergleichende Ideengeschichte heißt, intellektuelle Biografien in ihren Umständen und Perspektiven nebeneinanderzustellen und auch zu fragen, was die verschiedenen Meinungen und Wahrheiten für uns bedeuten“, erläutert Bormuth. So arbeitet er derzeit an einem Essay-Band über „Verunglückte“, so Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Ulrike Meinhof, die ähnlich wie Jaspers in einer selbstzufriedenen und restaurativen Nachkriegsgesellschaft ein kritisches Element darstellten, aber keinen lebbaren Ausweg aus Grenzsituationen fanden.
Bormuth ist klar, dass er in seinen Büchern und Essays nur Ausschnitte der Geschichte darstellt. Doch biete diese begrenzte Form, Geschichte zu schreiben, die Chance, etwas ganz anderes zu erreichen: „Vieles von dem, was diese Schriftsteller und Künstler denken, erscheint uns als ungewöhnlich, als extrem. Doch indem man diese Zuspitzungen nachvollzieht und verständlich macht, gibt man Anregungen, über das eigene Leben nachzudenken.“