• Liebevoll gestaltet: Poesiealben haben über Jahrzehnte eine große Rolle in der Kinder- und Jugenliteratur gespielt. In den Sprüchen finden sich Haltungen und Wertvorstellungen der Eintragenden oft explizit wieder. Foto: Daniel Schmidt/ Universität Oldenburg

Ins Album geschrieben

Wie entwickeln sich Wertvorstellungen in verschiedenen politischen Systemen? Dieser Frage geht der Sozialwissenschaftler Stefan Walter auf ungewöhnliche Weise nach: Er untersucht Einträge in Poesiealben.

Wie entwickeln sich Wertvorstellungen in verschiedenen politischen Systemen? Dieser Frage geht der Sozialwissenschaftler Stefan Walter auf ungewöhnliche Weise nach: Er untersucht Einträge in Poesiealben.

Der Umschlag ist samtig, Blumen zieren den Deckel. Auf den Buchseiten stehen, sorgfältig geschrieben und liebevoll illustriert, Lebensweisheiten und Sprüche wie „Der Fleiß in Deinen Jugendtagen wird später goldene Früchte tragen“. Für viele Generationen waren und sind Poesiealben ein Schatz, den sie ein Leben lang hüten. Sie bergen Erinnerungen an Schulfreunde, Lehrer, Eltern, Großeltern und Bekannte.

Auch für Dr. Stefan Walter sind diese Alben ein Schatz – allerdings aus wissenschaftlicher Sicht: Denn die Sprüche in den schmalen Bänden spiegeln unter anderem wider, welche Wertvorstellungen die Eintragenden hatten. Ob sie etwa religiös waren, Arbeit und Leistung als Wert schätzten oder ob sie Freundschaft oder Charakterfestigkeit priesen. „Als Sozialwissenschaftler interessiert mich, wie sich diese Vorstellungen im Laufe der Zeit wandeln“, sagt Walter.

Den Wertewandel in Alltagsgegenständen wiederfinden

Üblicherweise sammeln Forscher durch Umfragen Erkenntnisse darüber, wie sich Ansichten von Menschen ändern. Doch diese Methode habe auch Nachteile, erläutert Walter: Sobald Befragte wüssten, dass sie Teil einer Studie sind, seien ihre Antworten möglicherweise durch die Fragen beeinflusst. Ein Umstand, der die Ergebnisse einer Studie verzerren könnte. Dieses typische Problem der empirischen Sozialwissenschaften, die sogenannte „Reaktivität“, wollte Walter umgehen – und den Wertewandel in Alltagsgegenständen wiederfinden.

Auf seiner Suche nach einem geeigneten Thema für die Promotion fiele seine Wahl auf Poesiealben. – Ein Glücksfalls, wie sich herausstellen sollte. Als Heranwachsender hatte Walter selbst eines geführt und er fand in seinen Untersuchungen, woran er sich gut erinnern konnte: „In den Sprüchen finden sich Haltungen und Wertvorstellungen oft sehr explizit wieder“, berichtet Walter. Und die kurzen Texte seien nicht als Reaktion auf bestimmte Fragen entstanden. Außerdem haben die Alben eine lange Tradition. Denn schon seit dem 16. Jahrhundert schreiben sich Menschen gegenseitig ins Stammbuch – eine Sitte, die ursprünglich Erwachsene pflegten.

Wie haben sich die politischen Rahmenbedingungen ausgewirkt?

Dies änderte sich jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts. Seitdem waren es Kinder und Jugendliche, vor allem Schülerinnen, die bis Ende des 20. Jahrhunderts häufig Poesiealben geführt haben. „Die Bücher erlauben uns, Wertvorstellungen über einen langen Zeitraum zu beobachten und zu vergleichen, wie sich diese in unterschiedlichen politischen Systemen entwickeln“, sagt Walter. Denn ihn interessiert auch, wie sich die politischen Rahmenbedingungen der DDR und alten Bundesrepublik auf die Einträge in den Alben ausgewirkt haben.

Bevor Walter, der wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik ist, jedoch mit seiner Arbeit beginnen konnte, musste er zunächst Alben sammeln. Zwei Jahre lang suchte er über sein persönliches Umfeld und wissenschaftliche Netzwerke Menschen, die ihr Erinnerungsbuch der Forschung zugänglich machen wollten. Schließlich hatte er von 65 Teilnehmern 84 Alben erhalten, die zwischen 1949 und 1989 entstanden waren. Er befragte die Einsender zudem nach wichtigen Fakten wie Alter, Wohnort oder zu welcher Zeit sie das Album geführt hatten.

"Jede Generation hat ihre eigenen Sprüche"

Zwar sei diese Art, die Alben zu sammeln, nicht repräsentativ. Dennoch ließen sich dank sorgfältiger Arbeit Zusammenhänge prüfen und grundlegende Tendenzen erkennen, erläutert Walter. Rund 2800 Einträge wertete er aus – analysierte die Texte und sortierte die Sprüche in 20 Wertkategorien ein. Dabei fand er unter anderem, dass es zwar sehr typische, überlieferte Sprüche gibt, wie „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, die immer wieder auftauchen. Doch der Forscher stellte auch fest, dass sich Einträge im Laufe der Zeit gerade nicht wiederholen: „Jede Generation hat ihre eigenen Sprüche“, berichtet er.

Walter fand auch generelle Tendenzen – etwa, dass religiöse Sprüche vor allem von Familienmitgliedern niedergeschrieben wurden. Oder dass Verse, die Religiosität oder Pflichtbewusstsein thematisieren, im Laufe der Zeit immer seltener in den Alben auftauchten. Walter deutet dies als Ausdruck der Modernisierung. Doch nicht nur die Themen an sich, sondern auch die Art und Weise, wie die die Einträge Wertvorstellungen reflektieren, habe sich im Laufe der Zeit geändert: „Ende der 1940er und in den 1950er Jahren waren die Sprüche sehr imperativ“, sagt Walter, die Wertvorstellungen fänden sich unmissverständlich wieder. „Arbeite! Die Freude kommt von selbst!“ steht etwa in einem Album aus dem Jahr 1960.

Rückzug auf traditionelle Werte typisch für repressive Staaten

Vor allem die Einträge in Poesiealben aus Westdeutschland spiegelten mit der Zeit immer seltener klassische bürgerliche Werte wie Bildung oder Erkenntnisstreben wider. Wenn, dann kamen diese eher implizit vor – etwa wenn ein Englischlehrer mit seinem Eintrag die Kenntnis von Fremdsprachen preist. In den „DDR-Alben“ sei dieser Wandel dagegen kaum auszumachen: „Hier ist der Diskurs wie eingefroren“, sagt Walter. Gerade Lehrer, die in die Alben ihrer Schüler schrieben, hätten oft auf Klassiker zurückgegriffen. Für den Sozialwissenschaftler zeigt dies, dass sich die staatliche Ideologie der DDR gerade nicht in den Wertvorstellungen der Bürger niederschlug. Im Gegenteil: „Der Rückzug auf traditionelle Werte ist typisch für repressive Staaten. Die Menschen machen sich durch solche Haltungen weniger angreifbar“, erläutert er.

Die Ergebnisse seiner Doktorarbeit und anschließender Analysen bestätigen Walter darin, dass der Blick in die Poesiealben einen differenzierten Blick auf Wertevorstellungen in Ost und West ermöglicht – auch jenseits von Umfragen. Der Sozialwissenschaftler beschäftigt sich auch weiterhin mit dem Thema und  hofft, weitere Erkenntnisse für seine Forschung über die kurzen Texte zu gewinnen.  „Denn die Ergebnisse sind ja nicht in Stein gemeißelt“, sagt er. Sein Traum ist, noch mehr Poesiealben zu sammeln und zu archivieren, um diese der Forschung langfristig zugänglich zu machen.

In einer öffentlichen Vorlesung am Donnerstag, 31. Januar, im Vortragssaal des Landesmuseums Natur und Mensch Oldenburg (Damm 38-44) spricht Stefan Walter über seine Forschung an Poesiealben. Der Vortrag mit dem Titel  "Wozu Poesiealben? Alben als Forschungs- und Sammlungsgegenstand" beginnt um 18.15 Uhr. Die Veranstaltung ist Teil der Ringvorlesung  „Forschungsgegenstände: Wissensproduktion an (Universitäts)Sammlungen“, die das Institut für Materielle Kultur gemeinsam mit dem Institut für Biologie und Umweltwissenschaften und dem Bibliotheks- und Informationssystem der Universität anbietet.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

Keine Nachrichten verfügbar.
Presse & Kommunikation (Stand: 10.12.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page