Am 27. Januar erinnern Menschen weltweit an die Opfer des Holocausts. Der Geschichtsdidaktiker Dietmar von Reeken spricht im Interview über die Probleme ritualisierten Gedenkens – und darüber, welche alternativen Formen es gibt.
Seit 1996 gedenken wir in Deutschland am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die sowjetische Armee, den Opfern des Nationalsozialismus. Zum 60. Jahrestag der Befreiung im Jahr 2005 erklärten die Vereinten Nationen das Datum zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Warum wurde der Tag eingeführt?
Der internationale Gedenktag ging aus dem Ende der 1990er Jahre begonnenen Stockholm-Prozess hervor. Die dort gegründete International Holocaust Remembrance Alliance machte auf das Problem aufmerksam, dass die Zahl der lebenden Zeitzeugen des Holocausts abnimmt. Ziel des Tages ist es, die Erinnerung an die Opfer des Holocausts wachzuhalten und den Menschen deutlich zu machen, wie wichtig der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus bleiben. Gerade der deutschen Gesellschaft und dem deutschen Staat hilft der Holocaustgedenktag, das Gedenken zu strukturieren und zu ritualisieren. Dies zeigt sich darin, dass der Bundestag eine Gedenkstunde abhält oder dass Fahnen auf Halbmast gesetzt werden. Gleichzeitig bringen sowohl die Internationalisierung als auch die Ritualisierung des Gedenkens Probleme mit sich.
Inwiefern?
Nehmen wir die Internationalisierung: Tatsächlich ist die „Globalisierung des Gedenkens“ wissenschaftlich nicht unumstritten, weil der Holocaust ja zunächst ein konkretes historisches Geschehen in Deutschland und von Deutschland ausgehend in Europa war. Bei einem globalen Gedenktag erscheint der Holocaust aber manchmal nur noch als ein Synonym für radikale Gewaltherrschaft und deren Folgen und nicht mehr als ein konkretes historisches Ereignis. Doch wenn der Holocaust auch stellvertretend für andere Massenverbrechen und nicht nur für das singuläre historische Ereignis steht, ist dies problematisch, insbesondere aus Perspektive von Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen, weil deren Perspektive womöglich verblasst.
Und die Ritualisierung?
So sinnvoll beispielsweise die Gedenkstunde im Bundestag sein mag, ist die Frage: Wie kommt das bei den Menschen und insbesondere bei den jüngeren Menschen an? Zum Beispiel haben die NS-Gedenkstätten gemerkt, dass das ritualisierte Gedenken bei jüngeren Besucherinnen und Besuchern nicht gut ankommt. Diese Form des Erinnerns ist weit weg von der Lebenswelt junger Menschen und höchstens etwas, das sie in den Medien wahrnehmen. Aber mit ihnen selbst hat es wenig zu tun. Daher sollten wir darüber hinausgehen und neue Formen des Gedenkens finden.
Wie können wir denn die Erinnerung an den Holocaust wachhalten – gerade auch vor dem Hintergrund, dass bald keine Holocaust-Überlebenden mehr ihre Geschichte erzählen können?
Tatsächlich hat es für viele Menschen eine besondere Eindrücklichkeit, wenn Holocaust-Überlebende als Zeitzeugin oder Zeitzeuge aus ihrem Leben erzählen und über Dinge berichten, die sonst nur abstrakt in Schulbüchern behandelt werden. Da das nun immer seltener möglich ist, gibt es zum Beispiel Versuche, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als Hologramm sprechen zu lassen. Dabei können etwa ein Museumsbesucher oder eine Schülerin dem Zeitzeugen-Hologramm eine Frage stellen und ein Algorithmus bestimmt dann, welche der zuvor aufgenommenen Antworten das Hologramm gibt. Einerseits mag es lebendiger wirken, wenn man Zeitzeugen digital in den Raum projiziert und sprechen lässt. Andererseits gibt es die berechtigte Frage, ob es angemessen und würdig ist, den Opfern so zu begegnen und ob es sich dabei nicht auch um eine Instrumentalisierung handelt. Auch ich bin da skeptisch.
Welche anderen Formate gibt es?
Bei digitalen Vorhaben wie den Instagram-Projekten „Eva.Stories“ oder „Ich bin Sophie Scholl“ habe ich ähnliche Vorbehalte. Wenn solche Projekte dazu dienen, jungen Leuten, die stärker im Digitalen unterwegs sind, andere Zugänge zu bieten, ist das grundsätzlich sinnvoll. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Projekte qualitativ hochwertig sind, dass historische und didaktische Expertise dahintersteht und dass klar ist, wer für sie verantwortlich ist. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass solche Projekte Nähe und Distanz gut ausbalancieren. Denn auch wenn die Darstellung durch Schauspielerinnen oder Hologramme authentisch wirkt, können wir nicht in die Zeit zurückreisen. Wir sind nicht Teil der Vergangenheit, sondern Teil der Gegenwart.
Der wichtigste Ort, an dem junge Menschen etwas über den Holocaust lernen, ist nach wie vor die Schule. Wie lässt sich heute der Holocaust im Unterricht angemessen thematisieren?
Viele Schulen und Lehrkräfte setzen auf forschend-entdeckende Formate. Dazu gehört die Arbeit mit Biographien, wenn der direkte Kontakt zu Zeitzeugen nicht mehr möglich ist. Insbesondere eignen sich Biographien von Personen, die zum Zeitpunkt des Geschehens im gleichen Alter waren, wie die heutigen Schülerinnen und Schüler es sind. In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag zeige ich einen Weg auf, wie sich bereits Grundschulkinder mit der Politisierung der Kindheit im Nationalsozialismus durch Unterricht, Hitlerjugend und so weiter befassen können. Anhand von Quellen wie Erinnerungsberichten von Personen, die damals Kinder waren, kann man diese Politisierung verständlich machen. Auf diese Weise können wir aus meiner Sicht auch Grundschulkindern eine Auseinandersetzung, wenn schon nicht mit den Schrecken des Holocausts, so doch mit anderen Aspekten des Nationalsozialismus zumuten.
Gibt es weitere Formate?
Ja, zielführend sind meiner Meinung nach auch regionalgeschichtliche Ansätze. Ein gutes Beispiel ist der von den Oldenburger Schulen organisierte Erinnerungsgang zum 9./10. November, dem Jahrestag der großen Judenpogrome von 1938. Den Gang gibt es seit 1981, seit 2005 übernehmen Oldenburger Schulen im Wechsel die Organisation. Oldenburgerinnen und Oldenburger gehen die Route nach, auf der 1938 jüdische Oldenburger durch die Stadt getrieben wurden, bevor sie ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert wurden. Den Erinnerungsgang finde ich als Format sehr gelungen, weil die Schülerinnen und Schüler sich in ihrer aktuellen Lebenswelt intensiv mit Biografien von Menschen, die damals verfolgt worden sind, auseinandersetzen und eigene Formen des Gedenkens finden. Bei alledem gibt es jedoch noch ein weiteres Problem.
Welches Problem meinen Sie?
Studien haben schon vor mehr als zehn Jahren gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht zum Thema Nationalsozialismus im Wesentlichen lernen, wie man in unserer heutigen Gesellschaft über diese Zeit spricht und dies dann auf Nachfrage, etwa in einer Klausur, abrufen. Das ist natürlich hochproblematisch, weil wir ja bei allen anderen Themen des Geschichtsunterrichts wollen, dass sich Schülerinnen und Schüler eigenständig ein Urteil bilden. Ausgerechnet beim Thema Nationalsozialismus scheint es aber so zu sein, dass sie eher die gesellschaftlichen Urteile auswendig lernen und nicht eigene Urteile fällen, weil sie sich nicht intensiv genug damit beschäftigt haben. Wir müssen daher noch mehr von der teils abstrakten Strukturgeschichte und einer Täter-Opfer-Dichotomie wegkommen und mehr betrachten, wie die Menschen sich damals verhalten haben. Wie konnte aus einem Bauer, einer Verkäuferin, einem Lehrer ein Täter werden? Warum haben so viele Leute mitgemacht? Was waren – von Rassismus über Opportunismus bis hin zu Angst – ihre Motive? Und wo und warum haben manche vielleicht auch eine Grenze gezogen? Gerade vor dem Hintergrund manch aktueller Entwicklungen in unserer Gesellschaft halte ich es für wichtig, sich mit diesen Fragen zu befassen.
Was kann Geschichtsunterricht bewirken?
Es gibt Überlegungen, historische Bildung könne gegen politische Extreme immunisieren. Ich bin da ein bisschen skeptisch. Wir dürfen den Einfluss des Fachs Geschichte nicht überschätzen. Denn was in den klassischen und sozialen Medien, in den Peer-Groups, in den Familien und so weiter geschieht, kann man nicht in ein bis zwei Stunden Geschichtsunterricht pro Woche ausgleichen. Aber klar ist auch: Angesichts aktueller Entwicklungen wie dem wachsenden Rechtsradikalismus, Rassismus und Antisemitismus hat das Fach Geschichte und haben die Themen Nationalsozialismus und Holocaust einen wichtigen Gegenwartsbezug. Und zumindest punktuell kann der Geschichtsunterricht ein Verständnis schaffen dafür, wie gefährlich bestimmte Haltungen eigentlich sind.
Interview: Henning Kulbarsch