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Prof. Dr. Malte Thießen ist Leiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster, Experte für Impf- und Seuchengeschichte sowie außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Oldenburg, wo er sich 2017 nach sechs Jahren als Juniorprofessor habilitierte. Im September erschien sein jüngstes Buch „Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie“ (Campus-Verlag).

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Prof. Dr. Malte Thießen

Institut für Geschichte

LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

  • Lockdowns während der Pandemie waren für eine Mehrheit konsensfähig, weil wir Alte und Voerkrankte schützen wollten, sagt Historiker Malte Thießen. Noch 1970 war die Gesellschaft bereit, mit dem Tod von Risikogruppen zu leben. Foto: Adobe Stock/Andrea Schwingel ©Andrea Schwingel - stock.adobe.com

Seuchengeschichte in Echtzeit

Warum wir schon heute die Geschichte der Coronapandemie schreiben: ein Gastbeitrag von Historiker Malte Thießen.

Warum wir schon heute die Geschichte der Coronapandemie schreiben: ein Gastbeitrag von Historiker Malte Thießen.

Corona hat uns immer noch im Griff. Die mittlerweile vierte Welle, das Leiden vieler Menschen an Post-Covid und nach wie vor bis zu hundert Tote täglich machen uns die Gegenwart der Pandemie schmerzlich bewusst. Trotzdem spüren Historikerinnen und Historiker bereits heute der Geschichte der Pandemie nach. Wurden die ersten Bilanzen im Herbst 2020 noch von der zweiten Welle überrollt, ist es nun an der Zeit für eine Zwischenbilanz.

Aber kann das überhaupt gut gehen, Coronageschichte in Echtzeit? Wie lässt sich die Geschichte eines Ereignisses erzählen, das uns alle betrifft, für das noch kein Ende in Sicht ist? Ist es nicht zu früh für eine Geschichtsschreibung zur Coronapandemie? Tatsächlich ist eine solche für die Disziplin ein gewagtes Experiment. Ich bin dennoch überzeugt, dass uns das Experiment neue Einblicke in die Pandemie eröffnet und zugleich dabei hilft, Erfahrungen der Jahre 2020/21 für die Zukunft zu bewahren.

Gegen das Vergessen

Mittlerweile gerät die Frühgeschichte der Pandemie in Vergessenheit. Obwohl die Hamsterkäufe im Frühling 2020 für den Ausbruch archaischer Ängste stehen, sind sie heute kein Thema mehr. Und wer erinnert sich noch an die Stigmatisierung von „Seuchenträgern“? Bis in den Sommer 2020 hinein konnten wir mitten in Deutschland Ausgrenzung beobachten, die düsteren Vorzeiten glich. Chinesisch und italienisch aussehende Menschen wurden als „Corona-Körper“ beschimpft, beleidigt, aus Zügen, Bussen und Gebäuden gewiesen.

Auch der Beifall für Pflegekräfte ist heute weitgehend vergessen, ganz zu schweigen von der Kritik an der schreienden sozialen Ungleichheit, die Corona aufdeckte. Vor der Pandemie waren eben nicht alle gleich, im Gegenteil: Das Infektionsrisiko war für Frauen, ärmere Menschen oder Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss höher als für andere. Von frühen Forderungen nach einem Umbau unseres Gesundheitswesens ist heute dennoch nichts mehr zu hören.

Gefährliche Sorglosigkeit

Die Coronageschichte hält uns also den Spiegel vor. Sie macht nachvollziehbar, dass nicht Viren das Problem sind, sondern Menschen. Nicht Viren verbreiten sich, sondern soziales Verhalten und soziale Verhältnisse ermöglichen Ansteckung. Genau das ist eine Botschaft der Coronageschichte: Die Pandemie sind wir. Wenn wir Corona verstehen möchten, müssen wir gesellschaftliche Strukturen auf allen Ebenen in den Blick nehmen – von der Außenpolitik bis in unseren Alltag. Coronageschichte ist damit auch ein Plädoyer, dass wir unseren Anteil an der Pandemie reflektieren, um Debatten über Eindämmungsmaßnahmen zu versachlichen.

Die Coronageschichte spürt ebenso den Wurzeln unserer Gegenwart nach und macht so nachvollziehbar, warum wir zunächst sorglos in die Seuche schlitterten. Seit den 1970er-Jahren lebten die Deutschen im Zeitalter der Immunität. Infektionskrankheiten erschienen seither als Relikte vergangener Zeiten, allenfalls noch als Problem der „Anderen“, etwa in Asien oder Afrika. Obwohl Experten seit langem vor einer Rückkehr von Pandemien warnen und Notfallpläne in den Schubladen von Ministerien bereit lagen, waren wir zunächst nicht vorbereitet. Wir hatten verlernt, mit Pandemien zu leben. Unsere Sorglosigkeit gründete auf gewaltigen Innovationen bei der Entwicklung von Impfstoffen sowie Antibiotika und war insofern ein Fortschritt. Sie machte uns allerdings taub für Warnungen vor kommenden Bedrohungen.

Die Coronageschichte ist damit auch ein Plädoyer, Pandemien nicht als Ausnahmezustand zu verstehen, sondern als Normalzustand. Bei der Schweinegrippe 2009, bei den Ebola-Ausbrüchen und während der ersten Sars-Pandemie 2002/03 hatten wir Glück. An HIV erkranken jedoch nach wie vor unzählige Menschen, mehr als 90.000 Deutsche müssen heute mit Aids leben. Noch für unsere Großeltern waren Tuberkulose, Diphtherie und Masern alltägliche Bedrohungen und „Kinderkrankheiten“ keine Verniedlichung, sondern eine bittere Umschreibung für eine sehr hohe Kindersterblichkeit noch im 20. Jahrhundert.

Fortschritt erzählen

Die Coronageschichte spendet aber auch Trost. Das Impfprogramm beispielsweise ist eine kollektive Kraftanstrengung ohne Beispiel. Nie zuvor wurden in so kurzer Zeit zwei Drittel der gesamten deutschen Bevölkerung gegen eine Infektionskrankheit geimpft. Sosehr wir uns heute um die zu niedrige Impfquote sorgen, so beruhigend ist die gewaltige Innovationskraft globaler Wissenschaft zur schnellen Bereitstellung von Impfstoffen.

Sogar unsere Angst vor Corona ist im Grunde ein Fortschritt, wie ein letzter Rückblick in die Seuchengeschichte zeigt. 1969/70 tobte die Hongkong-Grippe über den Globus und forderte allein in Westdeutschland bis zu 50.000 Menschenleben. Die Reaktionen der Deutschen waren gleichwohl verhalten. Schließlich betraf die Hongkong-Grippe überwiegend Alte und Vorerkrankte, was damals noch als durchaus beruhigendes Signal verstanden wurde. Die Deutschen hatten gelernt, mit dem Tod von Risikogruppen zu leben.

Das ist heute vollkommen anders. Lockdowns und weitgehende Maßnahmen waren während der Pandemie für eine Mehrheit konsensfähig, weil wir Alte und Vorerkrankte schützen wollten. Ihr Tod galt nun nicht mehr als Kollateralschaden, sondern als Krise, die alle anging. Die Coronageschichte erzählt damit auch vom Wandel unserer Risikovorstellungen im 21. Jahrhundert und damit vom gesellschaftlichen Wandel überhaupt. Sie erzählt damit auch von Fortschritten, nach denen wir sonst nie gefragt hätten.

Dieser Text erschien zuerst in der Oktober-Ausgabe der Hochschulzeitung UNI-INFO.

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