Der zu befürchtende Bildersturm auf das Weltkulturerbe durch die IS-Terroristen lässt die meisten Menschen hierzulande kalt. Dabei gehört die Stätte in das kulturelle Gedächtnis der europäischen Nationen. Ein Beitrag von Michael Sommer, Althistoriker und Experte für das römische Syrien.
VON MICHAEL SOMMER
Am 20. Mai 2015 haben die Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) die Oasenstadt Tadmur erobert, das antike Palmyra. In der Nähe befinden sich, so heißt es, wichtige Gasvorkommen, auch soll die Oase ein Gefängnis beherbergen, in dem zahlreiche IS-Sympathisanten inhaftiert sind. Wohl noch mehr dürfte den Anführern der Miliz an der Eroberung und Zerstörung der Ruinenstadt selbst gelegen sein. Von allen antiken Orten, die sich im Einzugsgebiet des IS-Terrors befinden, ist Palmyra der einzige, der im Westen einen gewissen Bekanntheitsgrad genießt. Dennoch lässt der zu befürchtende Bildersturm auf das Weltkulturerbe hierzulande die meisten Menschen kalt. Ist es hartherzig, sich um „ein paar Ruinen“ zu sorgen, während rings herum Menschen sterben, bedroht und zur Flucht gezwungen werden?
Doch nicht die Sorge ist zynisch, sondern das Aufrechnen zwischen Menschenleben und dem kulturellen Erbe. Wer nicht ahnt, was hier gerade nicht nur einer Region, sondern der gesamten Menschheit verloren geht, kann nicht ermessen, dass mit den antiken Stätten in Syrien und im Irak eine elementare Conditio des Menschseins zur Disposition steht. Die Frage „Wer sind wir?“ ist unmittelbar an eine andere Frage gekoppelt: „Woher kommen wir?“ Stätten wie Palmyra gehören ins kulturelle Gedächtnis der europäischen Nationen, weil sie zeigen, dass Orient und Okzident keine Gegensätze sind, sondern historisch zusammengehören. Genau deshalb stehen sie ganz oben auf der Abschussliste der IS-Verantwortlichen.
Mit der legendären Wüstenkönigin Zenobia, die von Palmyra aus den römischen Kaisern die Stirn bot, verbinden aber nicht nur westliche Historiker etwas; auch die Baath-Diktatur des Assad-Clans leitet aus der angeblichen Revolte gegen Rom einen Kristallisationspunkt syrischen Nationalgefühls ab. Palmyras Zerstörung wäre somit auch ein wichtiger symbolischer Sieg über die verhasste Alewiten-Dynastie. Außerdem wäre die öffentlichkeitswirksame Planierung der archäologischen Stätte, wie in Nimrud und Hatra zu beobachten war, eine wohlfeile PR-Aktion für den Ausverkauf der aus Museen geplünderten Fundstücke, die auf dem Kunstmarkt ebenso zahlungskräftige wie skrupellose Abnehmer finden.
Seinen Reichtum und seinen fulminanten, wenn auch kurzen Auftritt auf der großen Bühne der Weltpolitik verdankte Palmyra dem Fernhandel. In der Regie der Kaufleute aus der Oasenstadt lag ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. fast der gesamte Güteraustausch zwischen dem Mittelmeer und Indien – und, darüber, China. Die Schönen und Reichen des römischen Imperiums verlangte es beständig nach exotischen Prestigewaren: Seide, Gewürze und Elfenbein standen besonders hoch im Kurs. Die Spediteure des Luxus waren die Palmyrener, die das mit Gold kaum aufzuwiegende Handelsgut erst auf dem Seeweg von der Westküste Indiens durch Ozean und Persischen Golf bis zum Schatt al-Arab verschifften; von dort folgte man per Karawane, quer durch parthisches Gebiet, dem Euphrat. Auf halbem Weg zwischen Euphrat und Mittelmeer lag, strategisch günstig dank der Oase, Palmyra, wo Händler aus dem Mittelmeerraum ungeduldig auf die Ankunft der Karawanen warteten.
Obwohl ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. der Jurisdiktion des römischen Statthalters von Syrien unterworfen, hatte Palmyra, politisch und wirtschaftlich, größeren Spielraum als jede andere römische Stadt. Es verdankte die Sonderrolle, ähnlich wie Hatra auf der parthischen Seite der Grenze, seiner special relationship zu den Nomadenstämmen, deren Anführer in Palmyra ein- und ausgingen. Ein geregeltes Verhältnis zu den Nomaden wie zu den Parthern war das Lebenselixier des palmyrenischen Fernhandels. Entlang der Steppengrenze agierten palmyrenische Notabeln mit an Dreistigkeit grenzendem Selbstbewusstsein: Das ging so weit, dass sie mitten im den Römern in herzlicher Abneigung verbundenen Partherreich einen Tempel für den römischen Kaiserkult unterhielten.
Die große Stunde der Oasenstadt schlug, als Roms Herrschaft im Orient 260 n. Chr. in ihre bis dato schwerste Krise schlitterte. Der Kaiser Valerian hatte östlich des Euphrat eine schwere Niederlage gegen die Perser Schapurs I. erlitten und war, Gipfel der Schmach, in Gefangenschaft geraten. Während ringsum die militärische Infrastruktur Roms zusammenbrach, organisierte Septimius Odaenathus, ein römischer Bürger und palmyrenischer Aristokrat, den Widerstand. Wenige Jahre später standen seine Truppen vor der persischen Hauptstadt Ktesiphon. Palmyra war, während Rom am Boden lag, zum Global Player avanciert. Der Kaiser in Rom überhäufte Odaenathus mit Titeln und Ämtern. Vermutlich 268 n. Chr. starb Odaenathus und seine Witwe Zenobia griff nach den Titeln – und der Macht.
Kaum hatte sich das Weltreich ein wenig erholt, war die Freiheit, mit der Zenobia im Osten schaltete und waltete, den römischen Imperatoren ein Dorn im Auge. Kaiser Aurelian zog an der Spitze eines Heeres gegen Palmyra und zwang so erst Zenobia zur offenen Revolte gegen Rom. Am Ende unterlagen die Palmyrener Aurelian, 272 n. Chr. war die machtpolitische Supernova verglüht. Wirtschaftlich und politisch spielte Palmyra nie mehr eine Schlüsselrolle, wenngleich die Stadt, als Festung und später auch als Bischofssitz, nach wie vor Bedeutung hatte.
Die Ruinen Palmyras künden bis heute von der Glanzzeit der Handelsmetropole im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Die kilometerlange Kolonnadenstraße quer durch die Stadt, der kolossale Bel-Tempel in seinem ummauerten Hof, das römische Theater, der Marktplatz, die vielen zweisprachigen – griechisch-palmyrenischen – Inschriften dokumentieren eindrucksvoll das Lebensgefühl einer Stadtgesellschaft im breiten Grenzsaum zwischen Orient und Okzident. Palmyrenische Baumeister bedienten sich ohne Scheu im Baukasten der Formen, der sich ihnen durch den Kontakt mit den Römern darbot. Sie griffen hinein, wählten die Architektursprache eines römischen Tempels und bauten damit – Gräber. Sie stellten klassische Säulen vor einen Tempel, in dem Kulte praktiziert wurden, von denen die Römer keine Vorstellung hatten. Palmyrenische Aristokraten kleideten sich morgens in eine römische Toga und ritten nachmittags in der Tracht der Steppennomaden durch die Wüste.
Wenn, was zu befürchten ist, der Islamische Staat auch Palmyra zerstören wird, dann ist die Vernichtung des Weltkulturerbes durch die Bilderstürmer nur konsequent: Verstörend muss aus ihrer Sicht die Synthese aus scheinbar Gegensätzlichem sein, irritierend die Bereitschaft, Fremdes an- und in die eigene Lebenswirklichkeit aufzunehmen.
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Literatur:
Butcher, K. (2003). Roman Syria and the Near East (London).
Hartmann, U. (2001). Das palmyrenische Teilreich (Oriens et Occidens, 2, Stuttgart).
Millar, F. (1993). The Roman Near East. 31 BC - AD 337 (Cambridge, Mass.).
Smith, A. M. (2013). Roman Palmyra. Identity, community, and state formation (New York).
Sommer, M. (2005). Roms orientalische Steppengrenze (Oriens et Occidens, 9, Stuttgart).
Sommer, M. (2008). 'Der Löwe von Tadmor. Palmyra und der unwahrscheinliche Aufstieg des Septimius Odaenathus', Historische Zeitschrift 287: 281-318.