Beinahe jeder kennt es: Fußball heute ist ein Massenphänomen. Als die Sportart im Deutschen Kaiserreich eingeführt wurde, war das noch ganz anders. Jörn Esch erklärt im Interview, woran das lag – und warum die Idee vom Fußball als Arbeitersport ein Mythos ist. FRAGE: Herr Esch, wer nicht selbst spielt, spricht zumindest darüber, ob man nun Anhänger von Borussia Dortmund oder Bayern München ist oder keiner dieser Mannschaften: Fußball ist heute zweifellos ein Massenphänomen. War das auch schon so, als das Spiel in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde? ESCH: Nein, sicher nicht. Vor den 1870er Jahren wurde in Deutschland vor allen Dingen geturnt. Das Turnen hatte eine lange Tradition, und es war sehr stark national aufgeladen. Die Turner erzählten sich und anderen immer wieder davon, dass gerade sie entscheidend an den Befreiungskriegen gegen Napoleon und dem deutsch-französischen Krieg beteiligt gewesen waren. Dagegen hatte es der Fußball ziemlich schwer – als eine Praxis, die erstmals in England einen festen Regelkanon erhalten hatte und somit als „englisch“ galt. FRAGE: In Ihrer Promotion „Das Subjekt des Fußballs“, an der Sie derzeit arbeiten, untersuchen Sie, wie das Spiel im Deutschen Kaiserreich zwischen 1875 und 1918 etabliert worden ist. Auf welchen Wegen ist es denn aus England nach Deutschland gekommen? ESCH: Zum einen durch englische Kaufleute, Ingenieure, Studenten und andere, die mit deutschen Kollegen, Freunden oder Kommilitonen spielten. Zum zweiten durchs „Abschauen“. So übersetzte der Braunschweiger Gymnasiallehrer Konrad Koch die Fußballregeln ins Deutsche, die an der Privatschule aus dem englischen Marlborough galten – und ließ seine Schüler nach diesen Regeln Fußball spielen. FRAGE: Wie sah denn dieses Regelwerk aus? ESCH: Es war eher eine Form des Fußballs, die heute als Rugby-Fußball bekannt ist, es gab also viele Stürmer, wenige Verteidiger. Und es war eine Mischform aus Fuß- und Handspiel. Dementsprechend war die taktische Grundformation – wie beim heutigen Rugby – von einem Fokus auf die Stürmerreihen geprägt. FRAGE: Nicht die Andeutung einer Viererkette? ESCH: In heutiger Fußballsprache würde man das damalige System als ein 2-3-5 bezeichnen. Aber das kann man besser in Jonathan Wilsons brillanter Darstellung zur Entwicklung der Fußballtaktik nachlesen, „Inverting the Pyramid“. Darin beschreibt er genau diese Entwicklung von einer zur Defensive hin zulaufenden Pyramide in die umgekehrte Richtung. Also vom 2-3-5 zum 4-5-1 oder, noch aktueller, 4-2-3-1. Von schwimmenden oder falschen Neunern mal ganz zu schweigen. FRAGE: Die Regeln waren also übersetzt – und kurzerhand breitete sich das Spiel im deutschen Kaiserreich aus? Esch: Nein, so schnell ging es nicht. Bis weit in die 1890er Jahre blieb Fußball ein Spiel unter vielen, das hin und wieder in Schulen gespielt wurde. In großen Städten wie Berlin, Hamburg oder München fand das Spiel auch eine gewisse nicht-schulische Anhängerschaft. Mehr war es damals noch nicht. FRAGE: Wie ging es dann weiter? ESCH: Es gibt vier markante Punkte in der Entwicklung in Deutschland bis 1918. Der erste Punkt: wie schon gesagt die Übersetzung der Regeln ins Deutsche. Den zweiten Punkt gab es in den 1880er Jahren. Mediziner und Pädagogen stritten darüber, ob die Schüler möglicherweise zu viel „geistigem“ Unterricht ausgesetzt wären. Die Argumentation: Unsere Jungen lernen Sprachen, Mathematik und alles mögliche andere, aber zum Bewegen bleibt zu wenig Zeit; sie werden krank und schwach. Neben vielen anderen Spielen wurde in dieser Zeit auch der Fußball empfohlen, als ein Spiel unter vielen. In den 1890er Jahren entwickelte sich zunehmend eine gewisse „Fußballlandschaft“. Es entstanden zum Beispiel Special Interest-Zeitschriften, also so eine Art „Kicker“ für das Kaiserreich. FRAGE: Was stand in solchen Zeitschriften? ESCH: Sie berichteten über die nun in einigen Städten durchgeführten Ligaspiele und gaben Hinweise zur richtigen Ausübung des Fußballspiels. Gegen Ende der 1890er Jahre erschienen dann eigene Lehrbücher zum Fußball. Den dritten Punkt in der Entwicklung gibt es erst um die Jahrhundertwende. Im Januar 1900 wurde der DFB gegründet. Es entstand ein Dachverband, der sich um die reichsweite Organisation der Spiele kümmerte, Liga- und Pokalwettbewerbe initiierte und so weiter. Und spätestens mit der Aussonderung einer eigenen Rugby-Abteilung im Jahr 1904 ermöglichte der DFB die Ausführung des Fußballspiels, wie wir es im Prinzip heute noch kennen. Ein Massenphänomen war Fußball aber immer noch nicht. Und es spielten vor allem Mitglieder des Bürgertums – die Idee vom Fußball als Arbeitersport ist ein Mythos, der weder für das Kaiserreich noch für seine Anfänge in England zutrifft. FRAGE: Und der vierte Punkt in der Entwicklung? ESCH: Der Erste Weltkrieg. Während des Krieges lernten die Mannschaften, also vor allem Männer aus dem Arbeitermilieu, von ihren Vorgesetzten, wie man Fußball spielt. Die kannten das Spiel noch aus ihrer Zeit als Gymnasiasten. Im Gegensatz zu Tennis oder Hockey bot das Fußballspiel ja einen entscheidenden Vorteil: Man brauchte nicht viel dafür. Ein Ball, zwei wie auch immer gestaltete Tore – und es konnte losgehen. FRAGE: Nahm die Bedeutung des Fußballs auch nach 1918 weiter zu? ESCH: Obwohl das nicht mehr das Thema in meiner Promotion ist: In der Weimarer Republik wurde der Fußball endgültig zu einem Massenphänomen. Zunehmend mehr Menschen wussten über den Fußball Bescheid. Und Turner und Fußballer legten ihre gegenseitigen Animositäten „zum Wohle des Vaterlandes“ bereits im Ersten Weltkrieg bei. FRAGE: Auf welches Material greifen Sie eigentlich für Ihre Forschungen zurück? ESCH: Ich setze mich mit Lehrbüchern, Zeitschriftenartikeln und Bildern auseinander. Die Lehrbücher sind vor allem deshalb interessant, weil in ihnen Idealvorstellungen darüber zu finden sind, was man zu tun hat, um Fußballer zu werden. FRAGE: Haben Sie ein konkretes Beispiel? ESCH: In vielen dieser Bücher finden sich etwa interessante Vorschriften darüber, wie man sein gesamtes Leben ausrichten soll, damit man ein „richtiger” Fußballer wird. Das reicht vom Frühstücksei am Morgen bis hin zum Masturbationsverbot für den Abend. Bilder interessieren mich in zweierlei Hinsicht: Zum einen frage ich mich, wie man ein Bild so gestaltet, dass der Betrachter dieses Bild nutzen kann, um beispielsweise den Kopfball zu lernen. Braucht man Pfeile? Muss man den Ball abbilden? Sind vielleicht noch Gegner mit in das Bild einzuzeichnen? Zum zweiten interessiert mich, welche Dinge die Bilder nicht explizit machen. FRAGE: Gibt es ein Bild, das Ihnen besonders wichtig ist? ESCH: Ja, eines, das ich immer wieder in Vorträgen zeige. Es ist aus Philipp Heinekens Lehrbuch zum Fußballspiel und zeigt das „Empfangen eines gepassten Balles“. Ich habe mit Kollegen und Kolleginnen diese Körperhaltung aus Spaß einmal durchgespielt, den Ball so anzunehmen, wie dargestellt. Geklappt hat das allerdings nicht so richtig.
Jörn Esch, Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, promoviert im Graduiertenkolleg Selbst-Bildungen über „Das Subjekt des Fußballs“.
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