Das neue Infektionsschutzgesetz wurde Mitte November vom Bundestag beschlossen, doch bei vielen bleibt Unbehagen. Wird das Parlament übergangen? Ein Gastbeitrag des Verfassungsrechtlers Volker Boehme-Neßler.
Der Bundestag hat Mitte November mit Zustimmung des Bundesrates weit reichende Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Das war unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten dringend nötig. Regierungen, Landkreise und Gesundheitsämter haben in den Monaten der Pandemie extrem in die Grundrechte und den Alltag der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen.
Solche Eingriffe erlaubt die Verfassung – aber nur in Ausnahmefällen. Sie müssen verhältnismäßig sein und auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen. Das entscheidende Gesetz war seit Anfang des Jahres das Infektionsschutzgesetz. Ein anderes gab es nicht. Das Problem dabei: Das Infektionsschutzgesetz war nicht gedacht als Grundlage für die Bekämpfung einer gefährlichen Pandemie. Es zielte auf eng begrenzte lokale Ausbrüche von Infektionskrankheiten – etwa einen Masernausbruch an einer Schule. Besser spät als nie: Die jetzt geplanten gesetzlichen Änderungen sollen eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die umfassenden Grundrechtseingriffe schaffen. Unter (verfassungs-) rechtlichen Gesichtspunkten lassen sich viele Details des Gesetzes kritisieren. Man merkt dem Gesetz an, dass es mit heißer Nadel gestrickt wurde.
Unter Demokratiegesichtspunkten inakzeptabel
Aber viel schlimmer als die juristischen Mängel im Detail ist ein grundlegender Fehler des Gesetzes: Durch die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes entmachtet sich der Bundestag selbst. Und das ist unter Demokratiegesichtspunkten völlig inakzeptabel. Um was geht es? Der Bundestag hat nach dem Gesetz das Recht, eine sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite festzustellen. Sobald er das getan hat, geht die Entscheidungsgewalt ganz weitgehend auf die Bundesregierung und die Landesregierungen über. Sie sind dann befugt, extrem repressive Maßnahmen zu ergreifen, um die Pandemie zu bekämpfen. Der Bundestag ist daran nicht mehr beteiligt. Er hat den Regierungen eine Blanko-Vollmacht erteilt.
Aber ist das denn ein Problem? Schlägt im Katastrophenfall denn nicht immer die Stunde der Exekutive? Und funktioniert die Pandemiebekämpfung in Deutschland nicht doch recht gut, trotz aller Mängel? Das ist richtig. Im internationalen Vergleich steht Deutschland ja tatsächlich gut da. Trotzdem: Das Verhalten des Bundestags wirft zwei große Probleme auf, ein verfassungsrechtliches und ein politisches.
Juristische Sollbruchstelle
Die Verfassung ist ganz eindeutig. Deutschland muss eine parlamentarische Demokratie sein. Alles andere wäre verfassungswidrig. Im Zentrum der Demokratie steht das Parlament. Es ist völlig klar, dass ein Parlament nicht alle notwendigen Entscheidungen treffen kann. Dass Regierungen und Verwaltungen einen großen Spielraum haben, ist notwendig und unvermeidlich und richtig. Aber in der Demokratie des Grundgesetzes muss das Parlament alle wichtigen, wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. Und zu den wesentlichen Entscheidungen gehört natürlich die Frage, ob und wie weit in Grundrechte eingegriffen werden darf. Ob ein Lockdown verhängt wird oder nicht, das ist aus der Sicht der Verfassung eine wesentliche Entscheidung, die der Bundestag treffen muss – und niemand anderes. Das Parlament darf die Entscheidung nicht an die Regierungen delegieren oder gar abschieben. Genau das tut es aber mit den neuen Regelungen. Insofern sind die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes verfassungsrechtlich äußerst problematisch. Hier liegt eine juristische Sollbruchstelle, die sich bei der Überprüfung von Corona-Maßnahmen durch die Gerichte auswirken wird.
Noch schlimmer ist allerdings der politische Schaden, den der Bundestag mit seinem Verhalten anrichtet. Seit Beginn der Pandemie geht es um ganz grundlegende, sogar existenzielle Fragen. Wird ein Lockdown verhängt? Bleiben die Schulen geöffnet? Wie werden die Lasten der Pandemie solidarisch verteilt? Wer wird zuerst geimpft, wenn Impfstoffe auf dem Markt sind? Und was ist mit dem Problem der Triage: Wer bekommt das Bett auf der Intensivstation, wenn es davon nicht genug gibt? Debatten darüber im Bundestag? Fehlanzeige!
Solche existenziellen Fragen müssen in der Demokratie im Parlament diskutiert und entschieden werden. Der Bundestag befasst sich stattdessen immer wieder mit technischen Einzelfragen und Verwaltungsdetails. Im geänderten Infektionsschutzgesetz gießt er im Nachhinein das in Gesetzesform, was die Regierungen sowieso schon machen. Zugespitzt: Das Parlament nickt im Nachhinein ab, was Bundesregierung und Länder entscheiden und bereits praktizieren. Das entspricht nicht der Rollenverteilung, die das Grundgesetz vorsieht.
Mehr Akzeptanz und Transparenz durch Debatten
Große Debatten im Parlament haben eine wichtige Funktion. Sie sorgen dafür, dass alle Aspekte eines Problems öffentlich beachtet und diskutiert werden. In einer großen Bundestagsdebatte kommen – im Idealfall – alle unterschiedlichen Interessen, Vorstellungen, Vorschläge und Ängste der Bürgerinnen und Bürger auf den Tisch. Sie werden beachtet, diskutiert und haben – im Idealfall – Auswirkungen auf die Parlamentsentscheidung am Ende. Das hat eine wichtige Folge. Weil das Parlament alle ernst nimmt, steigt die Akzeptanz für die Entscheidung. Auch Bürgerinnen und Bürger, die am Ende überstimmt werden, halten sich an die Regeln, wenn und weil sie sich ernst genommen und beachtet fühlen. Ein weiterer Punkt: Die mit der parlamentarischen Debatte verbundene Transparenz steigert das Verständnis für Entscheidungen und rechtliche Regelungen. Auch das führt zu einer besseren Compliance. In großen Debatten alle Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen und Transparenz herzustellen – diese grundlegende demokratische Aufgabe erfüllt der Bundestag in der Pandemie bisher nicht. Man muss es so hart sagen.
Eine ganz problematische Rolle spielt dabei ein fataler Begriff, der immer wieder in der Diskussion benutzt wird und das Denken prägt. Viel zu oft bezeichnen die Regierungen ihre Entscheidungen als alternativlos. Der Bundestag nimmt das ohne Widerspruch hin. Wenn etwas alternativlos ist, kann man ja auch nicht über Alternativen debattieren. Der Begriff Alternativlosigkeit ist aber offensichtlich falsch – und völlig unpolitisch und undemokratisch. Politik beginnt mit der Erkenntnis, dass es immer Alternativen gibt, zwischen denen man sich entscheiden muss. Die Idee von Politik und Demokratie basiert gerade darauf, dass über unterschiedliche Wege diskutiert und politisch mit Mehrheit entschieden wird. Das ist eine erwachsene Form von Politik. Das ist in der Pandemie aber bisher völlig anders. Der Bundestag schweigt und hält sich raus.
Warum gibt sich die Demokratie diese Blöße?
Dieses Schweigen hat fatale Folgen, die immer deutlicher sichtbar werden. Das Verständnis in der Bevölkerung für die belastenden Pandemieregeln erodiert immer schneller, der offen-trotzige Protest nimmt zu, genauso wie die heimlichen Regelbrüche. In weiten Teilen der Bevölkerung steigt die Politikverdrossenheit. Bürgerinnen und Bürger werden misstrauischer gegenüber dem Staat. Unbegreifliche Verschwörungstheorien, die nur fassungslos machen, verbreiten sich immer schneller und in immer weiteren Kreisen der Bevölkerung. All das spielt der populistischen AfD in die Karten. Immer wieder zeigt diese unsägliche Partei in Taten und Worten, wie sie das Parlament, die Demokratie und die Werte des Grundgesetzes zutiefst verachtet. Ausgerechnet sie kann sich jetzt in der Öffentlichkeit als wahre Vertreterin der Bürgerinteressen und Verteidigerin demokratischer Rechte aufspielen. Warum gibt sich die Demokratie diese Blöße? Es wird höchste Zeit, dass der Bundestag sich auf seine Rolle besinnt und über die wichtigen Fragen der Pandemie-Politik diskutiert und entscheidet. In turbulenten Zeiten ist das Parlament mehr denn je gefordert. Der Bundestag ist die Volksvertretung. Er muss über die großen Fragen debattieren und die Weichen stellen.
Ein Gastbeitrag von Volker Boehme-Neßler