Die Pandemie hat Gesellschaften rund um den Globus in eine Krise gestürzt – und ein Schlaglicht auf das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung geworfen. Die Sozialwissenschaftlerin Gesa Lindemann erläutert, was sich verändert hat und was nicht.
Frau Prof. Lindemann, Ihr Buch „Die Ordnung der Berührung“ befasst sich damit, was man durch die Coronakrise über moderne Gesellschaften lernen kann. Inwiefern hat die Pandemie dazu einen Anlass gegeben?
Gleich zu Beginn der Coronakrise hat die Berichterstattung in den Medien ein Schlaglicht auf verschiedenste gesellschaftliche Bereiche geworfen. Wir konnten wirklich etwas über die moderne Gesellschaft lernen.
Was denn zum Beispiel?
Es wurde sehr schnell deutlich, dass sich durch die Coronakrise strukturell nichts verändert. Wir leben weiterhin in einer Gesellschaft, die in unterschiedliche Handlungszusammenhänge ausdifferenziert ist. Das Recht funktioniert beispielsweise anders als die Politik, die Politik anders als die Wirtschaft. Die Berichterstattung ließ erkennen, dass es jeweils unterschiedliche Handlungslogiken gibt – dass also Akteure aus der Wirtschaft sich um etwas anderes sorgen als die, die in der Politik engagiert sind. Und zugleich hat sich unglaublich viel verändert. Nämlich das, was ich als die Ordnung der Berührung bezeichne.
Was ist damit gemeint?
Üblicherweise wird Berühren darüber definiert, dass eine Oberfläche mit einer anderen Oberfläche physisch in Kontakt kommt. Wenn sich zwei Körper berühren, berührt vielleicht die Hand die Haut der Schulter eines anderen. Das ist aber ein verkürztes Verständnis von Berührung. Menschen berühren sich nicht nur durch Oberflächenkontakt, sondern auch über Entfernungen hinweg. Wir können uns durch Gesten, durch Blicke und auch durch Worte gegenseitig berühren und von anderen berührt werden. Hier gab es in der Corona-Zeit einschneidende Veränderungen für jeden von uns. Wir müssen uns auf einmal an einem rein physikalischen Maß von Nähe und Entfernung orientieren, wenn wir einander nahekommen wollten. Mit der 1,5-Meter-Regel müssen wir immer darauf achten, wo sich der nächste Körper befindet. Diese Orientierung ändert etwas daran, wie wir uns leiblich und emotional näherkommen können.
Was sagt es über uns als Gesellschaft, dass wir uns mehrheitlich über eineinhalb Jahre an diese Vorgaben gehalten haben?
Das zeigt, wie sehr wir alle akzeptieren, dass wir der Gewalt des Staates unterworfen sind. Dass der Staat direkte Vorgaben darüber macht, wie wir einander nahekommen sollen, war über viele Jahrzehnte vollkommen undenkbar. Wir waren sozusagen im Gewaltparadox verhaftet.
Was heißt das?
Gewaltparadox meint, dass es eine staatliche Zentralgewalt gibt, die dafür sorgt, dass es keine private Gewaltanwendung mehr gibt. Das ist zumindest die Forderung: Jede private Gewaltanwendung ist im Prinzip illegitim, und wir vertrauen darauf, dass wir uns gewaltfrei begegnen können. Das ist für uns so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass die Gewaltfreiheit auf dem staatlichen Gewaltmonopol gründet.
Und das ist in der Coronazeit noch einmal deutlich geworden?
Genau. Mit den staatlichen Verordnungen dazu, wie wir einander berühren sollen, wurde auf einmal deutlich, wie sehr wir der staatlichen Gewalt unterworfen sind. Am Anfang bedurfte es daher immer wieder des Einsatzes der Polizei, um diese neue Ordnung der Berührung durchzusetzen.
Teils gab es ja auch starke Widerstände gegen die verhängten Maßnahmen.
Die rechtsstaatliche Verfahrensordnung sieht unterschiedliche Mittel vor, wie Bürgerinnen und Bürger mit der staatlichen Gewalt umgehen können: Sie haben die Möglichkeit zu klagen, um feststellen zu lassen, ob eine Form staatlicher Gewaltanwendung legitim war. Sie können Parteien gründen, um in das Gesetzgebungsverfahren einzugreifen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, sich auf Demonstrationen zusammenzufinden und damit zu zeigen, dass man mit dem staatlichen Handeln nicht einverstanden ist. Hier war die Coronakrise ein Lehrbeispiel: Alle drei Reaktionen konnten wir sehen. Insofern kann man sagen: Die rechtsstaatliche Verfahrensordnung funktioniert gemäß ihren Prinzipien prima.
Einerseits sind wir der Gewalt des Staates unterworfen, aber Sie beschreiben ihn andererseits auch als fürsorglich.
Genau, der Staat sorgt sich um die Körper der Individuen, um ihr Leben und ihre Gesundheit, und nicht darum, dass Gruppen erhalten bleiben. Als am Anfang der Pandemie die Frage der Herdenimmunität diskutiert wurde, wurde diese Lösung als sehr zynisch beurteilt und als etwas, woran sich Deutschland nicht orientieren sollte.
In der Coronakrise haben sich auf einmal viele sogenannte Verschwörungserzählungen verbreitet. Wie betrachten Sie als Soziologin dieses Phänomen?
Verschwörungserzählungen haben eine bestimmte Funktion. Es gibt neben unserer rechtsstaatlich gebundenen Verfahrensordnung der Gewalt noch andere Ordnungen. Etwa die Ordnung der Opferung, wie sie der französische Philosoph René Girard beschrieben hat. Um klarzustellen, dass bestimmte Normen gelten, wird hierbei das schwächste Glied einer Gruppe ausgewählt und beispielsweise verprügelt oder getötet. Diese Ordnung der Opferung war bis in die 1950er Jahre hinein auch in modernen Gesellschaften ein legitimer Bestandteil, sie war geradezu ein Bestandteil der offiziellen Politik und der medialen Berichterstattung. Wenn es gesellschaftliche Missstände gab, wurden immer wieder Gruppen, die sich nicht wehren konnten, dafür verantwortlich gemacht. Beispielsweise die Juden, die Homosexuellen, Sinti und Roma. Das änderte sich in den 1960er Jahren. Damals hat sich der Status von Gewaltopfern verändert. Opfer wurden von Verdächtigen zu anerkannten Sprechern. In den 1960er Jahren kam auch die Bezeichnung „Verschwörungstheorien“ auf. Damit wurde ein Wissen bezeichnet, das als fragwürdig und falsch galt. Damit wurde die klassische Form von Verschwörungserzählungen gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert.
Was passierte in der Coronakrise?
Die aktuellen Verschwörungserzählungen haben einerseits noch die gleiche Funktion wie früher. Es sind Erzählungen, die nach Schuldigen suchen. Sie suchen nach denen, die „uns“ angegriffen haben und gegen die „wir uns“ verteidigen müssen. Aber die Erzählungen – auch von der Querdenken-Bewegung – richten sich nicht mehr gegen die klassischen Opfergruppen. Das ist gesellschaftlich eher geächtet. Mich hat wirklich erstaunt, dass sich die Verfahrensordnung der rechtsstaatlich gebundenen Gewalt offenbar so stark durchgesetzt hat, dass die klassische Ordnung der Opferung nicht mehr gut zu funktionieren scheint. Es sind nicht die Fremden oder die Juden, die für Corona verantwortlich gemacht werden. Eher haben sich die Querdenker ja mit den Juden identifiziert. Dennoch suchen die Querdenker nach denen, die „uns“ etwas angetan haben und gegen die „wir uns“ verteidigen müssen. Nur sind es nicht mehr die traditionellen Opfergruppen, sondern eher gesellschaftliche Eliten.
Gibt es dennoch Parallelen?
Das ähnelt der Ordnung der Opferung nur noch insofern, als keine Gegenwehr zu erwarten ist. Man kann über Angela Merkel und Bill Gates die schaurigsten Dinge erzählen und muss keine Gegengewalt befürchten. Der Unterschied zur früher ist, dass Verschwörungserzählungen davor auch von gesellschaftlichen Eliten erzählt oder unterstützt wurden. Das ist heute kaum noch der Fall. Jetzt kanalisieren diese Erzählungen eher ein Misstrauen gegenüber den Eliten. Die Coronakrise hat die Gesellschaft enorm politisiert.
Am Anfang haben Sie gesagt: Unsere gesellschaftliche Ordnung wird sich durch Corona grundsätzlich nicht ändern. Sie sehen also keine Gefahr, dass da etwas aus dem Gleichgewicht gerät?
Wie die Gesellschaft auf die Pandemie reagiert hat, bietet keinen Hinweis darauf, dass sich die Verfahrensordnung der Gewalt verändert. Es gibt Hinweise auf andere Phänomene, die diese Ordnung gefährden, aber das hat nichts mit der Pandemie zu tun. Dazu würde ich den Prozess rechnen, der als Digitalisierung bezeichnet wird sowie die politisch gewollte Unkontrollierbarkeit großer Konzerne. Ob sich das langfristig mit einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahrensordnung verträgt, halte ich für zweifelhaft.
Sehen Sie denn Entwicklungen bei der Ordnung der Berührung, also auf individueller Ebene?
Der Weg aus der Pandemie, der sich andeutet, ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Einmal, dass es von staatlicher Seite freigegeben ist, wie sich die Einzelnen aus der Pandemie herausbewegen. Ich nehme an, es wird schrittweise vorangehen, mit sehr vielen Ungleichzeitigkeiten. Was aber bleiben wird, ist die Bedrohung durch hochinfektiöse Viren. Wir müssen auch bei den Coronaviren weiterhin mit Mutationen rechnen. Das heißt, wir werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu einem Leben wie vor der Pandemie zurückkehren, sondern werden uns dauerhaft an bestimmte Vorsichtsmaßregeln – vor allem im Umgang mit Fremden – gewöhnen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Ute Kehse