Vor Kurzem hat die Historikerin Dagmar Freist das „Prize Papers“-Projekt in der spanischen Botschaft in London vorgestellt. Im Interview spricht sie über gekaperte Galeonen, geheime Handelsnetzwerke, Sklaverei und bewegende Briefe, die nie ihr Ziel erreichten.
Kürzlich hat Sie der spanische Botschafter in London eingeladen, über das Projekt „Prize Papers“ zu berichten. Wie kam es dazu?
Im Rahmen des Projektes erforschen wir Dokumente, Wertsachen und andere Quellen, die als Kapergut im britischen Nationalarchiv in London liegen. Ein erheblicher Teil dieser Quellen stammt von spanischen Schiffen, die die Briten im 17. und 18. Jahrhundert gekapert haben. Als wir im Jahr 2023 drei spanische Fallstudien, die unsere wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Kooperationspartner zu besonders spannenden spanischen Schiffen verfasst hatten, veröffentlicht haben, war das Medienecho in Spanien sehr groß. Nicht zuletzt, weil wir bislang unbekannte Archivalien und Objekte aus der Zeit des frühneuzeitlichen Spaniens und seiner Kolonialgeschichte präsentieren konnten. Daraus entwickelte sich ein reger Austausch mit zwei spanischen Kolleginnen, María Saavedra und Milagrosa Romero Samper, beide von der San Pablo-CEU Universität in Madrid. Über sie kam es zu weiteren Kontakten, etwa zu Archivaren des Madrider Armada Archivs, die an dem Thema natürlich besonders interessiert sind, sowie, für uns überraschend, zur spanischen Botschaft.
Vor welchem historischen Kontext geschahen die Kaperungen?
Kapern war in der frühen Neuzeit ein legitimes Mittel der Kriegsführung. Regierungen haben Kapitänen sogenannte Kaperbriefe ausgestellt, womit diese gegnerische Schiffe aufbringen und im Erfolgsfall deren Ladung zumindest teilweise als Beute behalten durften – aber nur, wenn sie vor Admiralitätsgerichtshöfen nachweisen konnten, dass das Schiff wirklich dem Kriegsgegner gehörte. Ein gutes Beispiel aus unseren spanischen Fallstudien ist die Galeone La Nuestra Señora de Covadonga, ein schwer bewaffnetes, großes Schiff, das schon zwölf Jahre im Pazifik die bedeutende Handelsroute zwischen Acapulco in Mexiko und Manila auf den Philippinen gesegelt war. Über diese Handelsroute wurden in der frühen Neuzeit große Mengen an Silber und die damals kostbarsten Handelsgüter, wie Jade aus China, transportiert und von den Amerikas weiter auf europäische Märkte exportiert. 1743 wurde die voll beladene Covadonga mit 530 Menschen an Bord von dem britischen Kapitän George Anson vor den Philippinen gekapert. Zur Ladung des Schiffes gehörte nicht nur eine riesige Summe von Silber, nach heutigen Maßstäben im Wert von circa 60 Millionen Pfund, sondern auch Korrespondenzen von Beamten aus der Kolonialverwaltung, Händlern, Privatleuten und wertvolle Geschenke. Diese überlebten als Kapergut und können über unser Portal weltweit aufgerufen und erforscht werden.
Können Sie etwas zu den anderen Fallstudien verraten?
Die La Ninfa ist ein weiteres Schiff aus unseren spanischen Fallstudien. Das war ein Handelsschiff, das im Atlantik zwischen Cádiz und Veracruz segelte und sehr unterschiedliche Waren transportierte, darunter Wein, Liköre, Stahl und Textilien sowie, wie damals üblich, Postsäcke und Privatarchive von Kaufleuten. 1747 wurde es gekapert – und auch in diesem Fall wurde alles, was der Beweisführung dienlich sein konnte, vor den Admiralitätsgerichtshof nach London gebracht. So sind private Korrespondenzen, die Familienangehörige, Freunde und Geschäftspartner zwischen Spanien und Mexiko verschickten, erhalten. Diese Briefe geben nicht nur Einblick in Handelsstrategien, Schmuggel, Krankheiten oder Familienangelegenheiten, sondern so ganz nebenbei auch in die komplexe und wenig bekannte Migrationsgeschichte von Europäern in die Amerikas. So erfahren wir etwa, wie die strengen Migrationsregeln aus Armut oder in der Hoffnung auf ein besseres Leben umgangen wurden – in diesem Fall von Europäern.
Seit diesem Jahr gibt es eine offizielle Kooperationsvereinbarung mit spanischen Forschenden. Was beinhaltet diese Vereinbarung?
Diese Kooperation ist die jüngste von zahlreichen ähnlichen Vereinbarungen mit anderen internationalen Partnern, die unser Projektmitarbeiter Lucas Haasis in Abstimmung mit Amanda Bevan vom britischen Nationalarchiv für das „Prize Papers“-Projekt geschlossen hat. Das Ziel ist, wissenschaftliche Unterstützung bei der Erschließung des umfangreichen Quellenbestands zu erhalten und unseren Partnern im Gegenzug für die eigene Forschung und Lehre direkten Zugang zu für sie besonders interessanten Dokumenten zu ermöglichen. Was unsere Kooperation mit Spanien betrifft, so geht es hier um die Zusammenarbeit in der Betreuung von Doktoranden, in der Lehre und im Wissenstransfer. Dafür helfen die spanischen Kolleginnen und Kollegen uns dabei, die auf Spanisch verfassten Quellen zu erschließen und zu katalogisieren. Die Kooperationsvereinbarung legt zudem das Fundament dafür, das „Prize Papers“-Portal über eine Schnittstelle mit spanischen Datenbanken zu verlinken. Insbesondere die Datenbank des Armada Archivs in Madrid ist für uns interessant, weil dort sehr viele Informationen zum Schiffbau, zu Seerouten und insgesamt zur Marinegeschichte liegen.
Es sind teilweise sehr wertvolle Dokumente, Bücher und auch Objekte überliefert, die wir in dieser Form in den anderen Beständen bisher nicht gefunden haben.
Prof. Dr. Dagmar Freist
Zurück zu den Schiffen: Was hebt das auf spanischen Schiffen gefundene Kapergut von denen anderer Nationen ab?
Es sind teilweise sehr wertvolle Dokumente, Bücher und auch Objekte überliefert, die wir in dieser Form in den anderen Beständen bisher nicht gefunden haben. Darüber hinaus geben die Schiffspapiere und die erhaltenen Geschäftsbriefe einen Einblick in die Handelsnetzwerke, die sich über den Pazifik erstreckten und die die vielen Zwischenhändler in den Anrainerstaaten sichtbar werden lassen. Damit erweitern diese Funde unsere Forschungsperspektive zur europäischen Expansion und zum Kolonialismus, die in Europa noch häufig auf die Geschäftsbeziehungen quer über den Atlantik fokussiert ist. Gerade diese globalen Handelsnetzwerke zeigen darüber hinaus, dass man den Kolonialismus nicht nur aus einer nationalstaatlichen Perspektive erforschen kann, sondern dass viele Akteure – Frauen, Männer, ganze Familien – aus vielen Städten und Regionen Europas in sehr unterschiedlichen Rollen involviert waren. Menschen nutzten dabei auch Grauzonen, um Handelsbeschränkungen oder wie oben erwähnt Migrationsauflagen zu umgehen, die zwischen den Staaten und Kontinenten oftmals bestanden.
Haben Sie auch hier ein Beispiel aus Ihren Fallstudien?
Ein schönes Beispiel bieten die Schiffspapiere und Gerichtsakten der O Vaz de Lisboa, die 1748 unter portugiesischer Flagge von Sanlúcar de Barrameda in Spanien nach Amsterdam mit einer vollen Ladung Brandy unterwegs war und von einem britischen Kaperschiff gekapert wurde. Auch wenn Portugal in dieser Zeit freundschaftliche Beziehungen zu Großbritannien pflegte, wurde der Handel mit spanischen Waren in Kriegszeiten nicht gern gesehen, ein legaler Grund zur Kaperung bestand aber nicht zwingend. Dass die Kaperung nach endlosen Kontroversen vor Gericht und Bestechungsvorwürfen am Ende doch für legal erklärt wurde, wirft viele Fragen auf. Was vielleicht wie ein langweiliger Rechtsstreit klingt, eröffnet jedoch einen Einblick in international operierende Handelsnetzwerke, die eine flexible und oft fingierte Übertragung von Besitz erlaubten, und so den Status von „feindlich“ zu „neutral“ je nach Gegner flexibel gestalteten. Eine besondere Rolle spielten im Fall der Lisboa irische Kaufleute, die über die irische und die spanische Staatsbürgerschaft verfügten und diese strategisch einzusetzen versuchten. Diese Fallstudie ist übrigens aus einer Masterarbeit einer unserer Forschungsstudierenden entstanden und kann mit mehr Beispielen ebenfalls auf unserer Projektwebsite nachgelesen werden.
Gibt es wiederkehrende Motive in den spanischen Dokumenten, die Sie auswerten – und was finden Sie daran spannend?
Neben dem bereits Gesagten fasziniert mich immer wieder der Umgang mit dem Unbekannten, aber dies ist natürlich nichts spezifisch „Spanisches“, sondern wird auch in den Korrespondenzen anderer Nationalitäten thematisiert. Die Briefe spiegeln wider, was es für viele Menschen in der frühen Neuzeit bedeutet hat, als Händlerin, als Kapitän, als Seemann, als Familienmitglied eine Reise voller Ungewissheit anzutreten; wie sie sich darauf vorbereitet und welche Netzwerke sie dafür genutzt haben. Spannend zu sehen ist auch, wer schreibt. Überliefert sind die Stimmen von Frauen, Männern und Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten und Regionen der Welt.
Das sind sehr emotionale, herzliche, teilweise tränenrührende Dokumente, die den Trennungsschmerz widerspiegeln – und tragischerweise nicht ankamen.
Prof. Dr. Dagmar Freist
Welche Quellen haben Sie besonders beeindruckt – und vielleicht auch berührt?
Das sind zum Beispiel Briefe, die sich Familienmitglieder, darunter Kinder, geschrieben haben. Das sind sehr emotionale, herzliche, teilweise tränenrührende Dokumente, die den Trennungsschmerz widerspiegeln – und tragischerweise nicht ankamen. Auf ganz andere Weise berührt auch die Lektüre von Akten, die die Versklavung von Menschen dokumentieren. So zeigen Notizen, wie Menschen gegen Güter aufgerechnet wurden – in einem Beispiel ein versklavtes Kind gegen ein Fass Rum.
Sie sprechen es an: Die Spanier haben ebenso wie die Briten intensiven Sklavenhandel zwischen Westafrika und ihren Kolonien in Amerika betrieben. Heute sind Sklaverei und Sklavenhandel international geächtet. Wie haben Europäer damals auf Sklaverei geblickt?
Zur Sklaverei gibt es ganz unterschiedliche zeitgenössische Stimmen. Wir haben zum Beispiel Quellen, aus denen eine rein ökonomische Haltung spricht, etwa die Bestellnotiz eines Sklavenhändlers, der für seine Sklaven Medikamente bestellt hat – aber nicht aus humanitären Gründen, sondern damit seine „Ware“ erhalten bleibt. Ähnlich motiviert war der Umgang mit versklavten Menschen auf gekaperten Schiffen, auch sie wurden als „Ware“ behandelt. Oder die „Inventarliste“ einer Plantagenverwalterin mit Angaben zum Zustand von versklavten Menschen: Darin werden ihr Aussehen und ihre Charaktereigenschaften beschrieben, oder welchen „Wert“ und welches Arbeitspotenzial diese (noch) haben. Einen anderen Eindruck vermitteln uns Quellen von Missionarinnen und Missionaren wie den Herrnhutern. Sie haben oft im Auftrag der Kolonialmächte versklavte Menschen missioniert, da man sich davon eine Befriedung und, in der Sprache der Herrnhuter, eine „Zivilisierung“ durch Bildung versprach. Doch diese Haltung war ambivalent, denn Bildung konnte auch den Wunsch nach Unabhängigkeit provozieren und schürte die Angst vor Revolten. Die Herrnhuter sahen die Sklaverei durchaus kritisch und standen damit nicht selten in einem Spannungsverhältnis zu den Verwaltern der Kolonien. Andererseits wissen wir aus den Quellen, dass auch manche Herrnhuter selbst versklavte Menschen in ihren Haushalten hatten. Die Konversion zum Christentum führte also nicht zu einer gleichberechtigten Anerkennung.
Was können wir von den „Prize Papers“ und den spanischen Fallstudien künftig noch erwarten?
Allein die große Vielfalt an Quellen lässt erwarten, dass wir noch viele interessante Entdeckungen machen werden. Bezogen auf das gesamte Archiv, nicht nur auf die spanischen Dokumente, haben wir 130 verschiedene Quellentypen und 20 verschiedene Sprachen und Dialekte identifiziert – von Briefen, Urkunden und Inventaren, Warenlisten, medizinischen Abhandlungen, Gesundheitspässen, naturkundlichen Studien und Wetterbeobachtungen über Vokabellisten und Schreibübungen bis hin zu Noten und Zeichnungen. Dank der „Prize Papers“ gewinnen wir einen neuen, differenzierteren Blick auf die europäische Expansion und den Kolonialismus – mit all seinen Folgen an asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen ehemaligen Kolonien und Kolonialmächten, die teilweise bis in die Gegenwart fortwirken. Zugleich zeigen die Quellen, wie komplex die europäische Expansion war. Denn an ihr waren nicht nur Menschen aus den Kolonialmächten beteiligt, sondern Menschen aus ganz Europa, auch aus deutschen Territorien und Städten. Deutschland hat sich lange darauf ausgeruht, vermeintlich nur im 19. Jahrhundert eine kurze Phase des Imperialismus zu verantworten, doch die Forschung und insbesondere die „Prize Papers“ zeigen, dass auch viele Menschen aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lange zuvor in koloniale Eroberungen, Gewalt und den Sklavenhandel involviert waren.
Interview: Henning Kulbarsch