Am 1. Januar startet der Cluster Hearing4all in seine dritte Förderperiode – mit einem neuen Gesicht an der Spitze. Birger Kollmeier und seine Nachfolgerin Christiane Thiel im Interview über Vergangenheit und Zukunft des Clusters.
Herr Kollmeier, Frau Thiel – das Thema Hören eint Sie. Welche Rolle spielt das Hören in Ihrem jeweiligen Alltag? Wo hören Sie besonders gern oder bewusst hin?
Prof. Dr. Dr. Birger Kollmeier: Natürlich beim Musikmachen und Musikhören. Früher war ich selbst noch aktiver musikalisch unterwegs, habe Gitarre, Cello und Bassgitarre gespielt und gesungen – sogar schon mal mit Dieter Bohlen. Aber das ist eine andere Geschichte. (lacht) Heute mache ich selbst nur noch zu seltenen Anlässen Musik, zum Beispiel an Weihnachten. Ich höre stattdessen auf Konzerten meistens anderen zu – am liebsten natürlich im Haus des Hörens, wo es einen Saal gibt, in dem man die Akustik auf Knopfdruck umstellen kann. Die Musiker können sich aussuchen, ob es zum Beispiel nach Konzertsaal oder Bahnhofshalle klingen soll.
Prof. Dr. Christiane Thiel: Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Ich bin völlig unmusikalisch und stelle das Radio eher aus als an. Das liegt vielleicht auch daran, dass in meiner Familie selten Musik lief: Mein Bruder ist gehörlos und mein Vater war Lehrer für Gehörlose. Ich hatte also von klein auf mit dem Thema Hören zu tun. Dass ich selbst in die Hörforschung gehe, war trotzdem eher ein Zufall…
Kollmeier: …aber eine interessante Fügung.
Frau Thiel, in der neuen Förderphase gibt es unter der Überschrift „Hearing4all.connects“ erneut zahlreiche neue Perspektiven auf das Hören. Welche sind es – und warum sind sie wichtig?
Thiel: Technischer Fortschritt, gerade auf dem Gebiet künstlicher Intelligenz, bietet völlig neue Chancen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Hörverlust vorauszusagen, bevor er eintritt. Um solche Systeme zu trainieren, brauchen wir große Datenmengen – und zwar im gleichen Format. Deshalb wollen wir im ersten Schritt eine große, offene Audiologie-Datenbank entwickeln.
Vielversprechend ist auch ein Blick auf die Genetik: Anhand von Fruchtfliegen, die menschliche Gene des Hörverlusts tragen, wollen wir uns die molekularen Grundlagen des Hörens anschauen und erforschen, welche Auswirkungen genetische Veränderungen haben.
Außerdem untersuchen wir das Hören in den nächsten Jahren noch stärker im Kontext sozialer Interaktionen. Beispielsweise kann die Information, wie Eltern mit ihren hörgeschädigten Kindern kommunizieren, wichtige Erkenntnisse zur Sprachentwicklung geben. Fragen wie diesen gehen wir nach.
Herr Kollmeier, Hörforschung in Oldenburg gab es auch schon lange vor der Exzellenzstrategie. Sie haben den Vergleich: Wie hat sich das Forschen durch die Clusterförderung verändert?
Kollmeier: Die Hörforschung ist im Laufe der Zeit immer größer geworden. Ich bin 1993 an die Universität gekommen. Drei Jahre später haben wir das Hörzentrum als gemeinsame Einrichtung zwischen Universität und Evangelischem Krankenhaus Oldenburg eröffnet. Später haben wir zusammen mit der Jade-Hochschule den Studiengang Hörtechnik und Audiologie eingeführt. Schon mit unserer ersten Bewerbung um eine Exzellenzclusterförderung im Jahr 2006 ist dann innerhalb der Universität viel in Bewegung gekommen – obwohl sie am Ende nicht erfolgreich war. Sie hat dazu geführt, dass wir die nötigen Mittel erhielten, uns strategisch auf die nächste Förderrunde vorzubereiten. Parallel ging der erste Sonderforschungsbereich „Das aktive Gehör“ an den Start. Das Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie (IDMT) siedelte sich mit dem Institutsteil Hör-, Sprach- und Audiotechnologie in Oldenburg an und wir waren 2012 in der nächsten Runde der – damals noch Exzellenzinitiative – erfolgreich. Das war der Start von Hearing4all, durch den die Hörforschung noch einmal größer, vielfältiger und in gewisser Weise mächtiger geworden ist. Wir konnten Themen mit voller Kraft bearbeiten, mit denen sich vorher nur eine kleine Gruppe beschäftigt hatte. Und durch den Cluster konnten wir erstmals Forschung bis zum Ende denken, also bis zum fertigen Produkt.
Was bedeutet das konkret?
Kollmeier: Ein schönes Beispiel ist das sogenannte True Loudness-Verfahren. Wir haben festgestellt, dass Betroffene ihre Hörgeräte oft als viel zu laut empfinden, obwohl das linke und das rechte Hörgerät individuell betrachtet perfekt angepasst waren. Wir hören aber mit zwei Ohren gleichzeitig – und das führte zum beschriebenen Effekt, der in der Hörgeräteanpassung bis dahin aber überhaupt nicht berücksichtigt worden war. Das war das Ergebnis der Doktorarbeit von Dirk Oetting. Auf Basis dieser Erkenntnisse konnten wir dann gemeinsam mit dem Hörzentrum, also einem unserer Clusterpartner, ein Verfahren entwickeln, das letztes Jahr auf den Markt gekommen ist und Akustiker dabei unterstützt, Hörgeräte besser anzupassen.
Und welche Strahlkraft hat der Cluster auf die Universität?
Thiel: Unter anderem hat er 2019 zur positiven Begutachtung des Modellstudiengangs Humanmedizin beigetragen: Der Wissenschaftsrat hat die starke Forschung in Neurosensorik und Hörforschung als „profilbildendes Merkmal der Universitätsmedizin“ herausgestellt. Auch für zahlreiche Berufungen hat Hearing4all eine Rolle gespielt – indem der Cluster einerseits Hörforschende im engeren und weiteren Sinne angelockt hat und andererseits eine Forschungsinfrastruktur ermöglicht hat, die sehr attraktiv auch für Wissenschaftler anderer Bereiche ist.
Kollmeier: Wir haben heute eine Reihe von neuen Arbeitsgruppen, die etabliert sind. In den vergangenen Jahren konnten wir insgesamt acht neue Professuren einrichten. Ein signifikanter Anteil der Forschenden an der Universität hat also mit dem Hören zu tun. Der Sonderforschungsbereich Hörakustik ist in der zweiten Förderphase und auch am Graduiertenkolleg Hearable-zentrierte Assistenz sind Hörforschende beteiligt. Die Universität Oldenburg ist im Bereich der Hörforschung auch im weltweiten Vergleich super aufgestellt. Das hätten wir ohne den Cluster nie geschafft.
Frau Thiel, als Forscherin sind Sie schon lange Teil von Hearing4all. Welche Aufgaben bringt das neue, zusätzliche Amt als Sprecherin mit sich?
Thiel: Es bedeutet viel Organisation – aber auch, mich mit Forschungsbereichen zu beschäftigen, die originär nicht meine eigenen sind. Als Sprecherin muss man erklären können, woran die Kolleginnen und Kollegen forschen und einen guten Überblick haben. Gleichzeitig kann ich nicht immer alles wissen, deshalb ist es mir wichtig, in Zukunft auch andere Clusterforschende stärker in den Vordergrund zu rücken, die ihre jeweiligen Bereiche selbst vertreten. Diese Teamstärke haben wir und konnten sie bereits bei der Bewerbung um die dritte Förderphase zeigen. Das haben die Gutachter explizit gelobt.
Herr Kollmeier, wie verändert sich Ihr Arbeitsalltag dadurch, dass Sie sich aus Hearing4all zurückziehen?
Kollmeier: Ich bin zwar in den nächsten vier Jahren noch an der Uni tätig, aber eben nicht mehr für die gesamte Dauer der Clusterförderung. Deshalb bin ich nicht mehr als Sprecher und auch nicht als Projektleiter an Hearing4all beteiligt. In der Industrie würde man in dieser Situation wohl vom Vorstand in den Aufsichtsrat wechseln. Wir haben eine ähnliche Konstruktion: das Exzellenzzentrum für Hörforschung. Das ist eine Einrichtung der drei am Cluster beteiligten Hochschulen, neben uns also die Medizinische Hochschule und die Universität Hannover. Langfristig wollen wir aber auch die Universität Göttingen integrieren. Ich widme mich der Aufbauarbeit für dieses Exzellenzzentrum, das eine langfristige Struktur für die Hörforschung in Niedersachsen bieten soll. Denn: Gegenwärtig schafft die Förderung als Exzellenzcluster eine gewisse Struktur, innerhalb derer die Beteiligten gut gemeinsam forschen können – zumindest im Förderzeitraum. Das Exzellenzzentrum soll diese Strukturen langfristig und nachhaltig festigen, aber auch weiterentwickeln.
Was waren die größten Erfolge in den vergangenen 13 Jahren Clusterforschung in Oldenburg?
Kollmeier: Unsere Arbeit hat nicht nur die Anpassung von Hörgeräten verbessert. Der Oldenburger Satztest, den es in über 20 Sprachen gibt, ist jetzt in jeder Anpassungssoftware für Cochlea-Implantate weltweit vertreten. Das war nur möglich, weil unsere Partner aus Hannover die Ergebnisse aus Oldenburg eingesetzt und Firmen davon überzeugt haben, dass sie die beste Methode sind, um Sprachverständlichkeit zu testen. Neue Algorithmen für Hörgeräte, die etwa den Störschall mit künstlicher Intelligenz besser unterdrücken als es bisher mit Signalverarbeitungstechniken möglich war, gehören ebenfalls zu den vielversprechenden Entwicklungen.
Thiel: Die Grundlagenforschung hat substanziellen Anteil an Studien gerade zur Altersschwerhörigkeit. Wir haben dabei zum Beispiel auch gezeigt, welche Auswirkungen die Schwerhörigkeit gerade nicht aufs Gehirn hat, dass also der nachgewiesene Zusammenhang zwischen Schwerhörigkeit und Demenz nicht in einer grundsätzlich von Schwerhörigkeit verursachten Veränderung des Gehirns liegt – sondern andere Ursachen hat, die noch zu untersuchen sind.
Kollmeier: Außerdem haben wir in den vergangenen Jahren den Dreiklang von Hörforschung mit Menschen, Mäusen und Maschinen etabliert: Hörtests mit Menschen geben uns einen Eindruck davon, wie sich verschiedene Faktoren auf das Hören auswirken, Versuche mit Mäusen erlauben uns, die Physiologie des Hörens detailliert betrachten zu können und mit Software-Modellen können wir den Hörvorgang auf dem Computer nachbilden. Das alles liefert uns die wissenschaftliche Basis, um Hörstörungen interpretieren und besser diagnostizieren zu können, aber auch dafür, bessere Hörsysteme bauen zu können.
Welche Rolle spielen Begegnungen mit Menschen oder sogar Betroffenen? Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Kollmeier: Wir haben einen tollen Stamm an Citizen Science-Freiwilligen, die uns regelmäßig ihr Gehör leihen – allein 2.000, die an Hörversuchen im Hörzentrum teilnehmen. Meistens treffe ich sie bei Veranstaltungen, wo meine Aufgabe ist, ihnen zu erklären, was wir mit ihren Daten erforschen konnten. Als „System Oldenburg“, also mit allen Partnern auch außerhalb des Clusters, sind wir außerdem Anlaufstelle für Patienten aus der ganzen Welt, die sich von uns Lösungen erhoffen, die sie anderswo nicht finden konnten. Besonders freuen mich aber Begegnungen mit älteren Menschen, die mir erzählen, dass sie sich Hörgeräte angeschafft haben, weil sie vorher von mir gehört hatten, dass es wichtig ist, damit früh und in beiden Ohren zu beginnen. Die Freude darüber zu spüren, dass sie wieder die Vögel hören oder beim Musikhören etwas dazugewinnen, ist für mich toll.
Thiel: Außerdem gibt es in den Graduiertenkollegs Patientenbeiräte, mit denen wir an Forschungsthemen arbeiten. Ich gebe zu: Zunächst war ich etwas skeptisch, aber es hat sich schnell gezeigt, dass die Mitglieder Dinge ansprechen, an die wir gar nicht gedacht haben. Wir hatten in einer Studie zum Beispiel nach Partnern und Familie gefragt, weil wir einen Eindruck vom sozialen Umfeld bekommen wollten. Der Patientenbeirat hat dann zu bedenken gegeben, dass ein gutes Freundesnetzwerk, das sich regelmäßig kümmert, mindestens genauso wichtig ist, – das hatten wir bis dahin gar nicht abgefragt.
Frau Thiel, welches Geheimrezept aus seiner Erfahrung als Clustersprecher würden Sie gern noch von Birger Kollmeier hören, bevor Sie das Zepter übernehmen?
Thiel: Wie es gelingt, innerhalb der manchmal starren Regeln und Richtlinien kreative Lösungen zu finden, damit gute Ideen nicht an bürokratischen Hürden scheitern.
Von welchem H4a-Forschungserfolg würden Sie gern in den nächsten Jahren hören, Herr Kollmeier?
Kollmeier: Ich möchte, dass die Hörgeräte so gut Störschall unterdrücken können und immer die passende Lautstärke haben, dass das Hörgerät, das auch ich wahrscheinlich in ein paar Jahren brauche, alle Beschwerden beseitigt.
Interview: Sonja Niemann