Auch im Tierreich gibt es unterschiedliche Persönlichkeiten, die jeweils ihren eigenen Lebensstil pflegen: Selbst einfache Meereswürmer führen ihr tägliches Leben nach ihrem ganz individuellen Rhythmus, wie eine neue Studie ergab.
Ein Team um Dr. Sören Häfker vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), und Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible, die eine gemeinsame Professur des AWI und des Instituts für Chemie und Biologie (ICBM) der Universität Oldenburg innehat, veröffentlichte die durchaus überraschenden Ergebnisse im Fachjournal PLOS Biology. Demnach haben selbst einfach Meeresbewohner einen Hang zum Individualismus. Diese Vielfalt ist nicht nur für die Zukunft von Arten und Populationen in einer sich verändernden Umwelt interessant, sondern auch für die Medizin.
Der Star der neuen Studie wirkt äußerlich nicht besonders eindrucksvoll. Platynereis dumerilii ist ein nur wenige Zentimeter langer Borstenwurm, der in gemäßigten bis tropischen Küstengewässern rund um die Welt vorkommt. Für die Fahndung nach tierischen Persönlichkeiten gibt es sicher naheliegendere Kandidaten. Doch das war auch nicht das vorrangige Ziel der Untersuchung, an der Fachleute des AWI, der Max Perutz Labs in Wien, der Universität Wien sowie der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien beteiligt waren. In erster Linie interessieren sich die Forschenden für die inneren Uhren, die den Tagesrhythmus vieler Organismen steuern.
„Biologisches Timing ist auf verschiedenen Ebenen wichtig“, erklärt die Biologin Tessmar-Raible. „Die ökologischen Beziehungen zwischen Arten hängen ebenso davon ab, wie die biochemischen Prozesse in den Zellen.“ Wie aber reagieren die inneren Taktgeber, wenn der Mensch das Klima aufheizt oder durch künstliche Beleuchtung die Nacht zum Tag macht? „Bei Meeresbewohnern weiß man darüber bisher nur sehr wenig“, sagt Häfker, Hauptautor der Studie. Dabei spielen Rhythmen gerade in deren Leben eine besonders wichtige Rolle: Temperaturen, Lichtverhältnisse, Nährstoffangebot und eine Vielzahl weiterer Faktoren verändern sich im Laufe des Tages, und die Tiere müssen darauf entsprechend reagieren. Sie passen ihr Verhalten, ihren Stoffwechsel und ihre Gen-Aktivitäten an diese äußeren Rhythmen an.
Zum Modelltier geworden
Ob ihnen das künftig noch so gut gelingen wird wie bisher, ist allerdings unklar. Und wenn die inneren Uhren nicht mehr mit der Umwelt in Einklang stehen, kann das zu einem Überlebensproblem werden. „Wir müssten deshalb viel besser verstehen, wie sich die Rhythmen des Meeres verändern und was das für die einzelnen Organismen und ihre Populationen bedeutet“, betont der Biologe. Grund genug also, das tägliche Verhalten von Platynereis dumerilii genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn für die Chronobiologie, die sich mit den inneren Uhren von Lebewesen beschäftigt, ist der entfernte Verwandte der Regenwürmer zu einem wichtigen Modelltier geworden.
Schon bei früheren Untersuchungen war dem Team aufgefallen, dass die jungen Würmer ganz unterschiedlichen Tagesrhythmen folgen. Bei Menschen ist das ein bekanntes Phänomen: Aus einer früh aufstehenden „Lerche“ wird meist keine nachtaktive „Eule“ und umgekehrt. Wie aber ist das bei den Meereswürmern? Handelt es sich bei den Unterschieden in ihrem Verhalten nur um eine zufällige Schwankung oder haben auch sie ihren persönlichen Takt? Um das herauszufinden, hat die Gruppe systematisch die täglichen Aktivitäten der Tiere bei Neumond beobachtet. Dabei hat sich herausgestellt, dass manche Individuen jede Nacht sehr pünktlich zur gleichen Zeit herumkrabbeln. Andere dagegen sind arrhythmische „Couch-Potatoes“, die nur unregelmäßige Ausflüge machen.
Neben diesen Extremfällen gibt es noch allerlei Zwischenformen. Wenn man die gleichen Würmer Wochen später noch einmal analysiert, zeigen sie wieder sehr ähnliche Verhaltensweisen: „Couch-Potato“ bleibt „Couch-Potato“. „Diese Reproduzierbarkeit von individuellen Verhaltensrhythmen hat uns sehr überrascht“, sagt Kristin Tessmar-Raible. „Selbst Würmer sind also sozusagen kleine rhythmische Persönlichkeiten.“
Mehr Widerstandskraft durch Individualität
Um mehr über die Verhaltensunterschiede herauszufinden, hat die Gruppe systematisch die Genaktivität in den Köpfen von Würmern mit besonders rhythmischem und arrhythmischem Verhalten verglichen. Überraschenderweise funktionierte die innere tägliche Uhr selbst bei arrhythmischen „Couch-Potatos“ einwandfrei, und die Zahl der Gene mit rhythmischer Aktivität war praktisch genauso hoch wie bei den „pünktlichen“ Würmern. Die Vielfalt an unterschiedlichen Strategien könnte für die Tiere ein evolutionärer Vorteil sein, vermuten die Forscherinnen und Forscher. Schließlich leben die Küstenbewohner in einer Umgebung mit sehr abwechslungsreichen Lebensbedingungen. Da kann an einer Stelle der eine und nicht weit davon ein anderer Lebensstil erfolgreich sein. Zudem könnte diese Form von Individualität auch eine größere Widerstandskraft gegen menschgemachte Veränderungen bieten. Denn in einer sich wandelnden Welt erhöht die Vielfalt auch die Chance, dass einige Würmer besser mit den neuen Gegebenheiten zurechtkommen.
Doch nicht nur über die Rhythmen im Meer liefert die Studie neue Erkenntnisse. Sie betont auch, dass sich die Vorgänge im Inneren eines Lebewesens nicht unbedingt nur in seinem Verhalten widerspiegeln. Auch bei den Couch-Potato-Würmern folgen die Gen-Aktivitäten ja durchaus einem täglichen Rhythmus, der von außen nicht erkennbar ist. Das aber gilt wahrscheinlich nicht nur für Würmer, sondern auch für Menschen. „Spannend sind solche Erkenntnisse deshalb auch für die sogenannte Chronomedizin“, sagt Tessmar-Raible.
In letzter Zeit versuche man verstärkt und mit Erfolg, bei Behandlungen die inneren persönlichen Tagesrhythmen der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Wie bei den Würmern setzen sich diese jedoch aus verschiedenen Komponenten vom Verhalten bis zu den Gen-Aktivitäten zusammen, die jeweils unterschiedlich auf Medikamente und das Timing von deren Einnahme reagieren können. Insbesondere beim Menschen wird es daher wichtig sein, bei chronomedizinischen Analysen mehrere Ebenen im Auge zu haben. Wenn Würmer schon solche Individualisten sind, dürfte unsere eigene Art da kaum zurückstehen.