Wie wirkt sich Schwerhörigkeit auf das Erleben von Musik aus? Hörforscher Kai Siedenburg hat für seine Forschung an der Schnittstelle zwischen Signalverarbeitung und Musikpsychologie ein dreijähriges „Carl von Ossietzky Researchers‘ Fellowship“ der Universität erhalten.
Der 32-Jährige ist seit Ende 2015 im Department für Medizinische Physik und Akustik tätig und wird nun das Fellowship nutzen, um sich weiter zu profilieren und Mittel für seine zukünftige Forschung – etwa in einer eigenen Nachwuchsforschergruppe – einzuwerben. Die Förderurkunde überreichte ihm der Vizepräsident für Forschung und Transfer der Universität, Prof. Dr. Martin Holthaus.
„Es ist uns ein Anliegen, mit unserem universitären Fellowship erneut einen herausragenden und hochqualifizierten Nachwuchswissenschaftler auszuzeichnen und auf seinem weiteren Weg zu unterstützen“, sagte Holthaus. Das Forschungsthema von Dr. Kai Siedenburg gehe viele Menschen an: „Nicht nur jeder Zweite über 65 Jahre, sondern zunehmend auch viele Jüngere leiden unter Hörverlust – und möchten dabei auf den Genuss von Musik als integralem Bestandteil unseres kulturellen und sozialen Miteinanders nicht verzichten.“
Siedenburg untersucht, wie sich die von Schwerhörigkeit und Hörgeräte-Nutzung veränderte Wahrnehmung auf das Musikhören auswirkt. Denn Hörgeräte sind bislang vor allem für die Sprachwahrnehmung optimiert, so dass sie ungeachtet großer technologischer Fortschritte bislang laut Studien die wahrgenommene Musikqualität noch nicht konsistent verbessern. „Können diese Hörer beispielsweise in einem klassischen Konzert noch einer Solovioline oder einer Gesangsstimme in der reichhaltigen orchestralen Begleitung folgen?“, fragt Siedenburg. Um dem nachzugehen, zerlegt er mit mathematischen Werkzeugen – „wie mit einem akustischen Skalpell“ – instrumentale Klänge in den Anschlag oder das Einschwingen einerseits und den länger anhaltenden Klang andererseits. Auf einem Klavier gespielte Töne beispielsweise teilt er mit einem eigens entwickelten Algorithmus in das Auftreffen des Hammers auf die Saite, die sogenannten Transienten, und das Schwingen der Saite, die sogenannte stationäre Komponente.
Diese gewissermaßen „sezierten“ Klangkomponenten verwendet er in einigen seiner Hörexperimente, um herauszufinden, wie Hörer verschiedene Instrumente identifizieren und welche Merkmale dabei überhaupt wichtig sind: Wie nimmt das gesunde Gehör ein komplexes musikalisches Gebilde auseinander und gibt dem Hörer eine Repräsentation einerseits der einzelnen Instrumente und andererseits des Ensembleklangs? Siedenburgs Grundlagenforschung könnte in musikalisch intelligente Algorithmen münden, die es ermöglichen, etwa Konzerte – ob mit Sinfonieorchester oder Pop-Band – für verschiedene Hörbedürfnisse optimal abzumischen und auszuspielen.
Siedenburg, der an der Berliner Humboldt-Universität und der University of California at Berkeley (USA) Mathematik und Musik studierte, verbindet in seiner Forschung das Interesse an Signalverarbeitung und Musikpsychologie. Denn bei den Effekten von Schwerhörigkeit auf das Musikerleben gehe es um eine schlechtere sensorische Repräsentation der Musik bei Hörverlust, also ein weniger fein kodiertes sensorisches Signal, so Siedenburg. Zudem spielten aber auch Aufmerksamkeits- und Erfahrungseffekte musikpsychologischer Art eine Rolle, die den Hörverlust etwa bei ausgebildeten Musikern zunächst teilweise kompensieren könnten.
Bereits in seiner Diplomarbeit in Mathematik spezialisierte sich Siedenburg auf die Signalverarbeitung und legte die Grundlagen für seinen – kürzlich ausgezeichneten – Algorithmus, der die Klänge von Musikinstrumenten zerlegen kann. Anschließend promovierte er an der McGill University in Montréal (Kanada) in Musiktechnologie über die Merkfähigkeit für musikalische Klangfarben. 2015 wechselte er an die Universität Oldenburg in die Arbeitsgruppe „Signalverarbeitung“ unter Leitung von Prof. Dr. Simon Doclo, einem der Leitenden Forscher im Exzellenzcluster Hearing4all.