Ein Forscherteam um Bernd Blasius hat in Experimenten die längste bekannte Räuber-Beute-Zeitreihe realisiert. In der Zeitschrift Nature berichten die Wissenschaftler, welche ökologischen Mechanismen hinter den Schwingungen stecken.
Sogenannte Räuber-Beute-Zyklen gehören zu den grundlegenden Phänomenen der Ökologie: Die Zahl von Raubtieren und ihrer Beute, etwa von Füchsen und Hasen ist häufig durch regelmäßige Schwingungen gekennzeichnet. Ein internationales Forscherteam um Prof. Dr. Bernd Blasius von der Universität Oldenburg hat nun derartige Oszillationen in einem Langzeitexperiment mit Rädertierchen und einzelligen Algen über 50 Zyklen beobachtet – einen bislang unerreichten Zeitraum. Die Forscherinnen und Forscher berichten in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature, dass die regelmäßigen Schwingungen der beiden Populationen zwar zeitweilig durch zufällige Schwankungen aus dem Takt gerieten, danach aber von alleine wieder in Gang kamen.
„Unsere Experimente erhärten das theoretische Konzept von selbsterzeugten Räuber-Beute-Zyklen“, sagt Hauptautor Blasius, der am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) die Arbeitsgruppe Mathematische Modellierung leitet. Räuber-Beute-Zyklen beruhen auf einer Fraßbeziehung zwischen zwei Arten: Wenn sich die Beutetiere stark vermehren, nimmt etwas später auch die Zahl der Räuber zu – bis sie irgendwann so viele Beutetiere fressen, dass deren Zahl wieder sinkt. Etwas später werden auch die Raubtiere weniger, weil sie verhungern. Das erlaubt es wiederum der Beute, sich zu stärker vermehren – und ein neuer Zyklus beginnt.
Brauchen Räuber-Beute-Zyklen einen äußeren Antrieb?
Derartige Schwingungen werden durch einfache mathematische Modelle vorhergesagt, denen zufolge Populationen von Räubern und Beutetieren theoretisch unendlich lange gemeinsam existieren können. Die Frage, wie lange solche zyklischen Schwankungen in realen Gemeinschaften tatsächlich von alleine andauern, war bislang allerdings ungeklärt: Weil die Oszillationen im Freiland häufig mehrere Jahre dauern, griffen Biologen vor allem auf Experimente mit kurzlebigen Arten zurück. In bisherigen Versuchen starb allerdings entweder eine der beiden Arten nach wenigen Schwingungen aus, oder die Schwingungen verschwanden nach und nach ganz. Das legte die Vermutung nahe, dass Räuber-Beute-Zyklen in der Realität nicht von alleine über längere Zeiträume bestehen bleiben, sondern durch einen äußeren Antrieb – beispielsweise jahreszeitliche Schwankungen des Nahrungsangebots – aufrechterhalten werden.
Um die Frage zu klären, brachten Blasius und seine Kollegen von der Universität Potsdam und der McGill Universität in Kanada für ihre Experimente mikroskopisch kleine Süßwasserbewohner, so genannte Wappen-Rädertiere (Brachionus calyciflorus), und einzellige Grünalgen in Experimentierbehältern zusammen. In diesem System ließen sich konstante äußere Bedingungen einstellen, etwa eine gleichbleibende Nährstoffmenge für die Algen. In den Experimenten, die an der Universität Potsdam stattfanden, waren die Rädertiere die Räuber und die Grünalgen die Beute. Wie bei anderen Räuber-Beute-Beziehungen stellte sich ein konstanter Zyklus ein: Die Zahl der Algen schwankte mit einer Periode von 6,7 Tagen, die der Rädertiere ebenfalls – allerdings zeitlich um rund 40 Stunden versetzt.
Die Forscher beobachteten die beiden Populationen über einen Zeitraum von rund einem Jahr, was mehr als 50 Oszillationen und rund 300 Generationen der Rädertierchen entsprach. In mehreren Versuchsreihen kamen sie auf insgesamt rund 2.000 Messtage. „Um möglichst viele Räuber-Beute-Zyklen beobachten zu können, haben wir Organismen gewählt, die sich schnell reproduzieren”, berichtet Ko-Autor Prof. Dr. Gregor Fussmann von der McGill University in Kanada. „Dennoch hat es mehr als zehn Jahre gedauert, bis wir genügend experimentelle Belege gesammelt hatten, um unsere These zu beweisen.“
Irreguläre Phasen unterbrachen die Oszillationen
Mithilfe moderner Methoden der Datenanalyse ermittelte das Team verschiedene Schwingungen im System und fand heraus, wie diese zeitlich aufeinanderfolgten. Blasius und sein Team stellten beispielsweise fest, dass die jeweiligen Lebensstadien der Rädertiere (Eier, geschlechtsreife Tiere und tote Tiere) ebenfalls periodisch schwankten. „Wir haben überwiegend regelmäßige Oszillationen von Räuber- und Beutepopulationen mit nahezu konstantem zeitlichem Abstand beobachtet“, so Blasius. „Unerwarteterweise wurden die regelmäßigen Oszillationen immer wieder ohne erkennbare äußere Einwirkungen durch kurze, irreguläre Abschnitte unterbrochen“, berichtet Blasius.
In diesen Zeiträumen oszillierte die Zahl von Rädertieren und Algen zwar nach wie vor, doch das Team konnte keine feste Zeitspanne zwischen den Schwingungen beobachten. Nach kurzer Zeit stellte sich die ursprüngliche Abfolge allerdings von alleine wieder ein. Ähnliche Wechsel konnten die Forscherinnen und Forscher auch in ihren mathematischen Modellen reproduzieren: „Sie belegen die Resilienz des ökologischen Systems, also die Fähigkeit, nach zufälligen Störungen selbständig wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzukehren“, berichtet Blasius.
Die Analyse der Forscher zeigt außerdem, dass der Räuber-Beute-Zyklus auf einer regelmäßigen Abfolge verschiedener Prozesse in der ökologischen Gemeinschaft beruht. Das Team stellt in der Studie eine mathematische Methode vor, eine Art Fingerabdruck, um solche regelmäßigen Abläufe auch in anderen oszillierenden biologischen Systemen bestimmen zu können. So sei es zum Beispiel möglich, in komplexen Datensätzen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Arten und zyklische oder jahreszeitliche Abfolgen zu identifizieren.