Sie forschen zu Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen in Pandemiezeiten: Mark Schweda und Niklas Ellerich-Groppe im Interview über gemeinsame Ziele, hilfreiche Perspektivwechsel – und Grenzen der Solidarität.
Wer bekommt welchen Impfstoff, wer wird überhaupt geimpft und darf sich womöglich über zurückgewonnene Freiheiten freuen – wie erleben Sie aus medizinethischer Sicht die aktuelle Debatte?
Mark Schweda: Sie steht unter dem Eindruck von mehr als einem Jahr Pandemie. Diese Zeit war für uns alle von vielen Belastungen geprägt – die allerdings bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ganz unterschiedlich ausfallen konnten. Entsprechend emotional gerät nun die Auseinandersetzung über den Zugang zum Impfstoff und die Konsequenzen der Impfung. Die große Herausforderung besteht darin, uns über die Berechtigung unserer jeweiligen Interessen zu verständigen, ohne uns dabei gegeneinander zu wenden. Auch wenn es anstrengend ist, müssen wir weiterhin das große Ganze im Auge behalten: Welche Ziele haben wir als Gesellschaft, wie können wir diese am besten erreichen, und wer kann und muss dabei welchen Beitrag leisten? Sonst steigt der Unmut, und der soziale Zusammenhalt leidet.
Was verstehen Sie unter Solidarität?
Niklas Ellerich-Groppe: Es gibt wohl keinen ethischen Begriff, der in den zurückliegenden Monaten so häufig verwendet wurde – und zugleich so unklar erscheint. Allgemein verbinden wir mit Solidarität eine Vorstellung des Zueinanderhaltens. Näher lässt sich Solidarität dann als Bereitschaft bestimmen, für andere oder gemeinsam mit anderen einen Beitrag zu einem bestimmten Ziel zu leisten. Dabei wird das Ziel in der Regel als ein moralisch gutes Ziel verstanden, und der Beitrag kann durchaus mit Belastungen einhergehen. Die Frage ist immer: Wer ist bereit, für wen oder mit wem zu welchem Zweck welchen Beitrag zu leisten?
Ist unsere Gesellschaft solidarisch?
Schweda: Dafür ist die Corona-Krise eine Art Lackmustest. Wir haben den Anspruch, eine solidarische Gesellschaft zu sein, in der nicht jeder und jede nur an sich selbst denkt und niemand einfach im Stich gelassen wird. Und gerade zu Beginn der Pandemie haben sich tatsächlich große Teile der Bevölkerung sehr solidarisch verhalten. Sei es durch die Rücksicht auf besonders Gefährdete, den ungeheuren Einsatz ganzer Berufsgruppen, etwa des medizinischen und pflegerischen Fachpersonals, oder die weitgehende Einhaltung der Kontaktbeschränkungen. Dieses Ausmaß an gesellschaftlichem Zusammenhalt, das da sichtbar wurde, hat viele überrascht.
Hat sich dies inzwischen verändert?
Schweda: Inzwischen scheinen gewisse Fliehkräfte zuzunehmen. Die Einschränkungen gehen allmählich an die Substanz. Viele beginnen sich zu fragen, inwieweit sie im Einzelnen wirklich gerechtfertigt sind. Das ist in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft vollkommen berechtigt und sogar notwendig. Die individuellen Lebenslagen sind nun einmal sehr vielfältig und die Abwägungen äußerst kompliziert. Solidarität kann nicht uniformer Gruppenzwang sein, sondern nur eine immer wieder neu auszuhandelnde Einigkeit in der Vielfalt. Zugleich wird politisch und medial viel polarisiert, werden Feindbilder aufgebaut und Gruppen gegeneinander ausgespielt. Dagegen müssen wir uns verwahren.
Wie bewerten Sie die Frage nach der Solidarität zwischen den Generationen, welche Herausforderungen bringt diese mit sich?
Ellerich-Groppe: Ältere und jüngere Menschen sehen sich angesichts der Corona-Pandemie vielfach mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert und haben entsprechend unterschiedliche Perspektiven. So wird es schwieriger, Gemeinsamkeiten auszumachen, aus denen Solidarität erwachsen kann. Dabei ist nicht immer klar, wer gemeint ist, wenn von „den Generationen“ die Rede ist, es geht oft um sehr unscharf abgegrenzte Gruppen: Wer sind denn eigentlich „die Alten“, wer „die Jungen“? Oft sind auf beiden Seiten sehr pauschale Vorstellungen voneinander im Spiel.
Die Debatte darüber beleuchten Sie in einem neuen Forschungsprojekt zu Solidarität und Verantwortung. Inwieweit haben Jüngere wie Ältere überhaupt eine Wahl?
Schweda: Immer wieder ist zuletzt sehr stark an die Idee intergenerationeller Solidarität appelliert worden. Das begann bei den politischen Maßnahmen, die das private und öffentliche Leben zum Teil stark eingeschränkt haben, um die Pandemie einzudämmen. Als Rechtfertigung diente vielfach der Schutz der älteren Menschen, die als eine besonders gefährdete Gruppe gelten – und ähnliche Argumente kamen zum Tragen, als es um die Impfreihenfolge ging. Allerdings wurden die älteren Menschen gar nicht gefragt, inwieweit sie diesen Schutz überhaupt wollten.
Sie meinen, das wurde über ihren Kopf hinweg entschieden.
Schweda: Ja. Umgekehrt wurden auch immer wieder Stimmen laut, die von den Alten forderten, sich zu Gunsten der jüngeren Generationen zurückzunehmen oder gar aufzuopfern. So gab der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer zu bedenken, man rette dank der Infektionsschutzmaßnahmen mit hohem Aufwand Menschen, die ohnehin bald tot wären. Durch die Triage-Diskussion geisterten immer wieder Vorschläge, den Zugang zu lebensrettenden Beatmungsplätzen altersabhängig zu begrenzen. Und die Diskussion bleibt kontrovers. Deshalb ist es uns in unserem Forschungsprojekt wichtig, die unterschiedlichen moralischen Ansprüche, die im Namen der intergenerationellen Solidarität erhoben werden, erst einmal zu sichten und genauer zu verstehen. Dann können wir uns auch angemessen über ihre Berechtigung verständigen.
Wiederum aus ethischer Sicht: Wo hört Solidarität auf, oder hat sie keine Grenze?
Ellerich-Groppe: Solidarität ist nichts, was ich erzwingen kann. Ich kann darum werben, ich kann an die Solidarität appellieren, ich kann sie sogar einfordern. Aber wo sie nicht da ist, kann ich sie nicht einfach anordnen. Daraus ergeben sich faktische Grenzen von Solidarität. Ich kann zum Beispiel nicht mit allen gleichermaßen solidarisch sein, sondern muss irgendeinen Bezug zu den betreffenden Menschen haben, oder es muss eine Art Gemeinschaftsgefühl geben. Insofern hat Solidarität immer mit Grenzen und manchmal leider auch mit Ab- und Ausgrenzung zu tun. Zudem haben wir alle nur begrenzte Ressourcen, auch das kann der Solidarität Grenzen setzen. Irgendwann sind meine ganz praktischen Möglichkeiten, aus Solidarität mit anderen Belastungen auf mich zu nehmen, vielleicht erschöpft. Zum Beispiel sagen viele Familien, die mit ihren kleinen Kindern seit einem Jahr Berufsleben und Homeschooling unter einen Hut bringen, dass sie nicht mehr können und sich jetzt umgekehrt Solidarität von den Älteren wünschten.
Gibt es noch weitere Grenzen der Solidarität?
Ellerich-Groppe: Nicht nur faktische Bedingungen begrenzen Solidarität, auch andere moralische Normen und Werte oder rechtliche Grundsätze. Wir haben gesagt, dass solidarische Haltungen und Handlungen einen guten Zweck voraussetzen, für den man auch bereit ist, Lasten auf sich zu nehmen. Wenn nun der Zweck nicht oder nicht mehr gut erscheint – oder die dafür abverlangten Belastungen nicht mehr angemessen –, steht die Solidarität in Frage. Außerdem gibt es noch grundlegendere und gewichtigere Normen, etwa die Menschenrechte oder Grundsätze der Gerechtigkeit. So habe ich auch als alter Mensch auf jeden Fall das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung. Das ist nicht bloß eine Frage der Solidarität.
Wie sollte die Gesellschaft aus ethischer Sicht mit den Folgekosten der Pandemie umgehen? Lassen diese sich solidarisch schultern, oder werden Lasten – ähnlich wie beim Klimaschutz – wohl eher zu Ungunsten der jüngeren Generationen verteilt?
Schweda: Das wird eine der wichtigen Fragen in den kommenden Jahren sein. Vor dem Hintergrund der Klimakrise werden längst Forderungen nach einem neuen Generationenvertrag laut. Diese äußerst schwierige Diskussion müssen wir offen austragen, um unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht aufs Spiel zu setzen. Wichtig wird es dabei sein, alle mit einzubinden und zukünftige Generationen mitzudenken. Auf diesen Aspekt hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil zum Klimaschutzgesetz in Deutschland hingewiesen. Statt Generationenkämpfe vom Zaun zu brechen, müssen wir uns unsere vielfältigen Gemeinsamkeiten vergegenwärtigen. Dabei kann es helfen, sich vor Augen zu führen, dass auch alte Menschen einmal jung waren und junge – hoffentlich – einmal alt werden. Wir sitzen da alle im selben Boot!
Interview: Deike Stolz