Die Kultur galt lange als völkerverbindende Kraft. Der Krieg in der Ukraine habe diese Gewissheit zerstört, sagt die Germanistin Silke Pasewalck. Im Interview spricht sie darüber, wie selbst die großen russischen Autoren nun neu bewertet werden.
Frau Pasewalck, Sie waren 15 Jahre lang als Germanistin in Polen und in Estland tätig. Welche Wirkung hat der Krieg auf die Menschen im östlichen Europa?
Von früheren Kolleginnen und Kollegen habe ich direkt mitbekommen, welche Schockwirkung der Krieg ausgelöst hat, welch völliges Entsetzen. Die Angst vor einer Aggression von russischer Seite, die ich schon nach der Krim-Annexion in Estland erlebt habe, hat sich jetzt noch einmal verstärkt. Doch diese Angst hat nicht zu einer Paralyse geführt, sondern vielmehr zur Bereitschaft, alles zu tun, um die Ukraine zu unterstützen. Sowohl Polen als auch Estland treten sehr entschlossen auf.
Welche Folgen hat der Krieg für die kulturelle Verständigung?
Prägend für unser „westliches“ Verständnis von Kultur waren in den zurückliegenden Jahrzehnten vor allem die Theorien der kulturellen Verflechtung und Verständigung. Die gemeinsame Geschichte und die sich mehr und mehr globalisierende Gegenwart legten uns nahe, den eigenen Blickwinkel zu erweitern, um sich gegenseitig zu verstehen. Dieses Verständnis von Kultur und Geschichte wird, so fürchte ich, jetzt stark erschüttert. Man könnte von einem kulturellen Erdbeben sprechen. Wir können uns nicht mehr auf diese Konzepte zurückziehen, um die aktuellen Ereignisse zu erklären. Denn die Hoffnung, mittels eines Dialogs der Kulturen Differenzen zu überbrücken – nicht zuletzt mit Russland gab es bislang einen sehr intensiven Kulturaustausch – droht durch diesen Krieg verloren zu gehen.
Was bedeutet das für die Kulturwissenschaften?
Wir müssen uns fragen, inwieweit unsere Konzepte von russischer Seite instrumentalisiert wurden In Osteuropa begegnete ich immer wieder Leuten, die meinen unbedingten Willen zum Dialog naiv nannten. Jetzt nehme ich diese Stimmen sehr ernst und denke, wir müssen Konzepte entwickeln, die auch die neue Entwicklung erklären können. Dem müssen wir uns als Disziplin stellen. Ich beobachte bereits, wie das Konzept der Verständigung momentan eher einem Konzept des Kulturkampfs weicht.
Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin hat im „Spiegel“ geschrieben, dass Putin die russische Kulturnation zerstöre, während der Respekt und das Interesse für die ukrainische Kultur wachsen. Beobachten Sie das auch?
Ja, eine solche Verschiebung beobachte ich ebenfalls. Auch bei uns im Bundesinstitut entwickeln wir jetzt eine verstärkte Aufmerksamkeit für die ukrainische Kulturgeschichte und Literatur. Wir sehen es durchaus als Defizit, dass bislang vieles sehr stark auf Russland fokussiert war. Es mag sehr hart klingen, aber ich denke, dass die russische Kultur und Literatur jetzt einer Relektüre bedürfen.
Was ist damit gemeint?
Eine neue Sicht auf die russische Literatur etwa. Zu einer solchen Revision hat kürzlich die ukrainische Schriftstellerin und Journalistin Oksana Sabuschko in einem Essay aufgefordert. Und auch russische Autorinnen und Autoren wie Viktor Jerofejew oder eben Sorokin sagen: Wir dürfen diese jahrhundertelange Marginalisierung der ukrainischen Kultur und Literatur nicht fortbestehen lassen, wir dürfen nicht so weitermachen. Diese Aufrufe werden jetzt immer mehr, auch von Seiten ukrainischer Intellektueller.
Es geht also auch um eine neue Sicht auf die großen russischen Schriftsteller wie Tolstoi, Dostojewski oder Turgenjew?
Genau. Ich bin sehr gespannt, wie sehr sie vom Sockel gestoßen werden. Von ukrainischer Seite definitiv, das höre ich und lese ich.
Was hat das für einen Hintergrund?
Oksana Sabuschko erkennt in Texten Tolstois oder Turgenjews Muster, die Gewalttaten vom Täter ablösen, die Schuld an eine höhere Gewalt abschieben oder in einer Läuterung aufheben und damit den Boden für ein Verstehen des Bösen bilden. Ich verstehe das selbst noch zu wenig und will auch nicht sagen, dass ich das genauso sehe. Aber ich nehme wahr, dass auf ukrainischer Seite ein Bildersturm eingesetzt hat, was die russische Literatur betrifft.
Welche Rolle spielen Schriftstellerinnen und Schriftsteller im aktuellen Konflikt?
Das ist eine wichtige Frage. Ich versuche derzeit, die literarischen Stimmen zum Krieg zu dokumentieren, suche sie im Feuilleton und darüber hinaus in literarischen Texten. Wir sind Zeitzeugen eines Epochenumbruchs, darauf müssen wir als Geisteswissenschaftler reagieren
Und was beobachten Sie?
Viele ukrainische Autorinnen und Autoren engagieren sich medial gegen den Krieg: Andrej Kurkov, Präsident des ukrainischen PEN, gibt Interviews für britische Medien, Sergij Zhadan nimmt mit seiner Band Sobaky im umkämpften Charkiv Songs auf. Zahlreiche ukrainische Autorinnen und Autoren leben in deutschsprachigen Ländern und engagieren sich in den hiesigen Medien. Die in Wien lebende Tanja Maljartschuk versteht sich seit dem 24. Februar als „Soldatin mit dem Wort“. Sie hat ein Buchprojekt nach zweijähriger Recherche aufgegeben, um sich ganz dem Widerstand mit dem Wort zu widmen. Ich finde es wichtig, das wahrzunehmen: Jetzt ist noch nicht die Zeit für Literatur im Sinne eines über Jahre angelegten Rechercheprojekts, das etwa zu einem großen Roman führt. Für sie ist jetzt die Zeit engagierter Literatur, zum Teil sogar agitatorischer Texte. Ein anderes Kapitel wäre, wie deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf den Krieg reagieren. Hier gibt es diverse erste Stellungsnahmen, ich denke etwa an Antje Rávik Strubel, Durs Grünbein oder Ingo Schulze. Doch die tektonischen Verschiebungen des kulturellen Erdbebens werden sich, so denke ich, erst mit der Zeit zeigen.
Erfahrungen wie Vertreibung, Krieg und Gewalt waren auch im 20. Jahrhundert für viele Menschen in Europa prägend. Wie werden solche Erlebnisse literarisch verarbeitet?
Oftmals geschieht dies erst Generationen später. In den letzten Jahren haben jüngere Autorinnen und Autoren der Gegenwart, die also zur Enkelgeneration gehören, diese ererbten Traumata aufgegriffen. Sie beschäftigen sich mit der eigenen Familiengeschichte oder der eigenen Herkunftsregion. Die in Berlin lebende ukrainische Autorin Katja Petrowskaja beispielsweise ist in ihrem preisgekrönten Werk „Vielleicht Esther“ ihrer jüdischen Familiengeschichte in Polen, der Ukraine, Österreich und Deutschland nachgegangen. Das Buch ist eine Spurensuche in der eigenen Herkunftswelt, in der vieles verschwiegen und vergessen wurde. Solche Erinnerungen wurden in den letzten Jahren gerade von der dritten Generation, die diese Zeit nicht mehr selbst erlebt hat, literarisch angegangen. Diesen literarischen Stimmen gilt eines meiner Forschungsprojekte im Bundesinstitut mit dem Thema „Shared Heritage. Geteiltes Erbe als Sujet und Erzählverfahren in der Gegenwartsliteratur“, in das ich künftig auch stärker ukrainische Autoren integrieren möchte. Ich stelle allerdings auch fest, dass jetzt wieder eine neue Erlebnisgeneration heranwächst.
Wächst jetzt eine stärkere Verbindung zwischen ost- und westeuropäischen Ländern?
Das ist eine Hoffnung, die ich habe. Dass die Aufmerksamkeit für die Ukraine jetzt zunimmt, ist auch eine Chance. Das Bundesinstitut jedenfalls wird seine Zusammenarbeit mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen verstärken und auch humanitäre Hilfe leisten. Es ist absehbar, dass wir von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Gelder zur Verfügung gestellt bekommen, um Stipendien für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vergeben zu können, sowie für den Kulturgutschutz.