Zu den Autoren

Dr. Peter Neumann war ab 2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Kürzlich wechselte er ins Feuilleton der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT.

Mit Adornos Schriften beschäftigte sich Helena Esther Grass schon in ihrer Magisterarbeit an der Universität Frankfurt. Sie war dort ab 2015 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig, ehe sie 2019 ans Institut für Philosophie der Universität Oldenburg
wechselte. Dort gehört sie seit 2020 der Adorno-Forschungsstelle an.

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Helena Esther Grass

Praktische Philosophie

Adorno-Forschungsstelle

Adorno-Forschungsstelle

Die Adorno-Forschungsstelle versteht sich als fächerübergreifendes Forschungsnetzwerk. Gegründet 1996 von dem Soziologen Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm, wird sie seit 2007 am Institut für Philosophie von Prof. Dr. Johann Kreuzer fortgeführt.

Ziel ist, die verschiedenen Aktivitäten zu Adorno, Walter Benjamin sowie zur Kritischen Theorie zu bündeln. Die Ergebnisse sollen den Diskurs um das Werk Adornos anreichern und Anreize zu weiteren Forschungsarbeit bieten. Dabei geht es beispielsweise um die Frage, wie relevant die Denkimpulse Adornos heute noch sind und welche gegenwartsdiagnostische Erschließungskraft sie in sich tragen. Seit 2011 leistet das Adorno-Handbuch der Forschungsstelle einen wichtigen Beitrag dazu. Inzwischen liegt es in einer zweiten, erweiterten und aktualisierten Auflage vor.

Die Adorno-Forschungsstelle bietet überdies Seminare zu Klassikern der Kritischen Theorie sowie zu damit verbundenen aktuellen Themen an. Sie stehen allen Interessierten offen. Außerdem organisiert das Netzwerk internationale Fachkonferenzen – wie zuletzt im November im Oldenburger Kunstverein anlässlich des 70. Jubiläums der Minima Moralia.

  • "Reflexionen aus dem beschädigten Leben", so lautet der Untertitel von Adornos "Minima Moralia" - hier eine Ausgabe aus dem Erscheinungsjahr, die zum Bestand des Oldenburger Karl-Jaspers-Hauses gehört. Foto: Daniel Schmidt / Universität Oldenburg

Wohin steuert die Geschichte?

Adornos Minima Moralia warfen vor sieben Jahrzehnten einen gnadenlos kritischen Blick auf den Zustand der Gesellschaft. Im Gastbeitrag plädieren Helena Esther Grass und Peter Neumann dafür, das „Kultbuch“ des Frankfurter Philosophen wieder zu lesen.

Als Adornos Minima Moralia vor etwas mehr als 70 Jahren erschienen, waren sie das Buch der Stunde. Kein Intellektueller warf einen so gnadenlos kritischen Blick auf den desolaten Zustand der aufgeklärt bürgerlichen Gesellschaft wie der Frankfurter Philosoph. Grund genug, seine schillernden Aphorismen wieder zu lesen, finden die Gastautoren Helena Esther Grass und Peter Neumann von der Adorno-Forschungsstelle der Universität.

Es gibt wenige philosophische Klassiker, die es in den Rang eines Kultbuchs geschafft haben. Theodor W. Adornos 1951 erschienene Aphorismensammlung Minima Moralia ist ein solches Buch, auch wenn der Verfasser selbst vermutlich Probleme damit gehabt hätte, als Autor eines solchen populären Genres bezeichnet zu werden. Adorno ging es keinesfalls darum, gefällig zu sein. Und dennoch avancierten seine Reflexionen aus dem beschädigten Leben, wie das Werk im Untertitel heißt, wenige Jahre nach dem Krieg zur Pflichtlektüre unter Intellektuellen, gerade weil sie mit ihrem unerhörten Sound für ein Denken standen, das sich nicht mehr vom durch und durch falschen Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft korrumpieren ließ, sondern es mit Verve entlarvte.

Wie ‚beschädigt‘ das Leben zur Mitte des 20. Jahrhunderts war, davon legen die insgesamt 153 Aphorismen des Buchs Zeugnis ab. Unter so poetisch klangvollen wie gleichermaßen rätselhaften Stichwörtern wie „Rasenbank“, „Prinzessin Eidechse“ oder „Tough Baby“ versammelt Adorno in den Minima Moralia konzentrierte, bis zum äußersten verdichtete Mikroreflexionen, in denen einzelne, zum Teil auch trivial anmutende Erfahrungsbestände aus dem Alltag, dem Film, der Werbeindustrie und dem Design unter dem Brennglas der Kritischen Theorie unvermittelt zum Bild einer ganzen Epoche aufflammen. Ob Totalitarismus, Kulturindustrie oder kapitalistische Warenwelt: In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wittert Adorno eine gefährliche Tendenz zur völligen Sinnentleerung, die die Chance auf Humanität und individuelles Glück zutiefst prekär werden lässt. Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, so lautet Adornos Diagnose, trägt heute bis ins Innerste den Kern des Zerfalls in sich.

Zur Faszinationsgeschichte der Minima Moralia gehört zweifellos ihre literarische Form: Geschult an der Aphorismenkunst Friedrich Nietzsches wie am frühromantischen Fragment, aber auch in Anlehnung an die bissigen Satiren eines Karl Kraus verzichtet Adorno auf die tradierte Form der philosophischen Abhandlung und begibt sich stattdessen auf das ureigene Feld des poetischen Denkens. Adornos Aphorismen leben nicht vom minutiös ausgearbeiteten Argument, sondern vom blitzhaften Vorschein dessen, was sich in Begriffen ohnehin nicht fassen, geschweige denn ein für alle Mal gültig aussagen lässt. Und ebenso wie der Frühromantiker Friedrich Schlegel um 1800 die „Unverständlichkeit“ gegen eine allzu siegessichere Aufklärung verteidigte, heißt es nun bei Adorno mit Blick auf eine in den ewigen Kreisläufen der bürgerlich-kapitalistischen Rationalität gefangenen Gesellschaft: „Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich.“

Bis die Minima Moralia erschienen, war es ein weiter Weg. Sieben Jahre waren vergangen, seit Adorno die ersten Skizzen in seinem Tagebuch notiert hatte. Es war ein ungewöhnlich scharfer Ton, den Adorno in seinen Reflexionen anschlug. Spröde, bitter, oft genug überheblich. Vielen seiner Erstleser*innen galt das Buch nicht nur als zu schwierig. Es war die offen zur Schau gestellte moralische Überlegenheit der Kritik, die sie abstieß. Thomas Mann, der das Buch kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seinem Verleger Gottfried Bermann-Fischer in New York ans Herz legte, ging wenige Monate später schon auf Distanz zu seinem Nachbarn aus dem kalifornischen Exil, dem er immerhin entscheidende musiktheoretische Einsichten für seine laufende Arbeit am Doktor Faustus verdankte: Zwar hörte Mann nicht auf, Adorno weiter in seinem Publikationsanliegen zu unterstützen, dem Buch bescheinigte er nun aber „etwas ‚Ätzendes‘, Überscharfes, Überintellektuelles“. Und auch Bermann-Fischer konnte seinen inneren Widerstand gegen Adornos „Superklugheit“ nicht überwinden. Das Buch blieb ungedruckt in der Schublade und damit in seiner intellektuellen Sprengkraft zunächst verkannt.

Als die Aphorismensammlung dann aber im frisch gegründeten Suhrkamp-Verlag erschien, war sie das Buch der Stunde und Adorno der philosophische Medienstar einer jungen Bundesrepublik auf dem Weg zu sich selbst. Eine nachwachsende Generation erkannte in den Aphorismen das intellektuelle Rüstzeug, um die desolate geistige Situation, in die sich die deutsche Nachkriegsöffentlichkeit hineinmanövriert hatte, wortmächtig zu kritisieren. Die bürgerliche Gesellschaft, die den Nationalsozialismus in Deutschland nicht nur nicht verhindert, sondern sogar begünstigt und, mehr noch, erst ermöglicht hatte, war gerade dabei, wieder Fuß zu fassen. Adornos Buch war eine deutlich vernehmbare, überaus lautstarke Warnung davor, sich fortan in Sicherheit zu wiegen.

"Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen"

Dem vielfach zu beobachtenden Bedürfnis, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, erteilten die Minima Moralia eine Absage. Adorno zeigte die Erfahrungsmuster auf, die nicht nur zum Zivilisationsbruch von Auschwitz geführt hatten, sondern auch nach dem Krieg noch immer fest im gesellschaftlichen Leben der Adenauer-Republik verankert waren. Von einer historischen Stunde Null, einem Neuanfang nach 1945, konnte keine Rede sein. Selbst ein strengeres Entnazifizierungsverfahren hätte daran nichts geändert. Die Vergangenheit aufzuarbeiten, hieß für Adorno, immer wieder auf jenes „Leiden“ zu stoßen, das sich nicht einmal annährend adäquat in Worte fassen ließ. „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen“, heißt es in einem Aphorismus. Wer über die Vergangenheit sprach, durfte von dem unbewältigten Rest nicht schweigen, den jede Lebensgeschichte mit sich führte.

Mit seinem ebenso bestechenden wie unnachgiebigen Einspruch gegen die hässliche Selbstzufriedenheit einer bundesdeutschen Wirtschaftschaftswundergesellschaft wurde Adorno, der 1949 nach Deutschland zurückgekehrte und sich um den Wiederaufbau des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt bemühte, über die Jahre hinweg zum Stichwortgeber einer sozialen Protestbewegung, die sich in der 68er-Generation in den USA wie in Europa schließlich Bahn brach. Adornos zentraler Losung, es gäbe kein richtiges Leben im falschen, sollten nun praktische Konsequenzen folgen, auch wenn Adorno selbst den revoltierenden Student*innen bis zuletzt mit großem Unbehagen begegnete. So nachvollziehbar die Beweggründe des Protestes waren, in den zum Teil militanten Aktionen der Demonstrant*innen erkannte Adorno nur eine andere Form der totalitären Gewalt. In einem Interview kurz vor seinem Tod sagte Adorno, er habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt, wie hätte er ahnen können, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollten. Sein Anliegen war ein anderes als das einer gewaltvollen Praxis.

Im Zentrum der Minima Moralia steht eine Kritik der Aufklärung. Dieses Anliegen teilen die Minima Moralia mit der bereits 1947 erschienenen Dialektik der Aufklärung. Denn Aufklärung, die in ihrem Geltungsdrang nicht gebremst und auf bestimmte Erkenntnisfelder eingeschränkt wird, das war eine Haupteinsicht von Adorno und seinem kongenialen Mitstreiter Max Horkheimer, hat die Tendenz, sich in ihr Gegenteil, die Mythologie, zu verkehren. Sie wird blind und schlägt in eine Herrschaft über ihre eigenen, im Grunde emanzipatorischen Potenziale um. Vom Versprechen der Aufklärung, den Menschen zu befreien, bleibt nur die endlose Steigerungslogik des wissenschaftlich-technischen Denkens übrig, die der Vernunft nicht nur den Raum zur Entfaltung nimmt, sondern sie im falschen Glauben wiegt, tatsächlich frei zu sein. Geschichte wird zum schicksalhaften Verhängnis. Und genau dagegen gilt es Einspruch zu erheben.

Diese Kritik ist insofern doppelbödig, als sie allen Verunglimpfungen zum Trotz gerade dadurch am Versprechen der Aufklärung festhält, indem sie die Aufklärung vor einer pervertierten Form ihrer selbst zu retten versucht. Es gilt, die Aufklärung, das Vermögen selbsttätig denken zu können, vor ihren überzogenen Ansprüchen und ihren fatalen Selbsttäuschungen zu bewahren, die sich bereits in ihre Anfänge in der Antike zurückverfolgen ließen. Es bedurfte nach der moralischen Katastrophe von Auschwitz nicht weniger, sondern im Gegenteil mehr Aufklärung, um zu verhindern, dass Ähnliches sich noch einmal wiederhole.

Hinter der Kritik am blinden Fleck eines aufgeklärten Fortschrittsglaubens wird sichtbar, worauf die Minima Moralia eigentlich zielen. Adornos ‚Ethik im Kleinen‘ fragt in grundlegender Weise danach, wie in einer durchrationalisierten Moderne noch von einem „richtigen Leben“ gesprochen werden kann, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine volle Entfaltung sozialer Freiheit gerade verhindern. Adorno beklagt, dass das, was einmal ‚Leben‘ hieß, in der Moderne vom Zauber der Warenwelt korrumpiert worden sei. War das „gute Leben“ in der Antike noch ‚höchstes Gut‘ aller Philosophie, sieht es sich heute von der alle Lebensbereiche durchdringenden Tendenz zur Verdinglichung in seiner Existenz schon so gut wie vernichtet. Adornos dringlichste Frage lautet: Ob und – wenn ja – wie ‚Leben‘ in einer Welt, die ein Leben, das diesen Namen tatsächlich verdiente, systematisch von sich ausschließt und im schlimmsten Fall sogar vernichtet, gelingen kann?

Das Erbe der Aufklärung auf dem Spiel

Auch heute, mehr als dreißig Jahre nach dem vielfach proklamierten ‚Ende der Geschichte‘, steht der innere Zusammenhang von Aufklärung und Vernunft, von souveräner Freiheit und einem gelingenden Leben erneut zur Debatte. Äußerlich betrachtet mag die Gegenwart im 21. Jahrhundert zwar alles andere als ‚beschädigt‘ erscheinen. Von einer auch noch annähernd vergleichbaren Situation wie der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kann in keiner Weise die Rede sein. Wie porös indessen der moralische Firnis einer sich für aufgeklärt haltenden Öffentlichkeit ist, hat die globale Ausbreitung des Coronavirus im vergangenen Jahr gezeigt. Autoritäre Regime und rechtspopulistische Parteien feiern weltweit Erfolge, indem sie die Errungenschaften wissenschaftlicher Forschung in Frage stellen und rationale Argumente im Namen eines ‚freien‘ Denkens bewusst ignorieren oder gar mutwillig entstellen.

In Anbetracht dieser zum Teil düsteren bis bedrohlichen Aussichten haben Adornos Reflexionen aus dem beschädigten Leben auch nach siebzig Jahren nichts von ihrer ungeheuren Gegenwärtigkeit verloren. Noch immer steht das Erbe der Aufklärung auf dem Spiel. Jürgen Habermas, der Nachfolger der von Adorno und insbesondere Horkheimer begründeten Kritischen Theorie, sprach in diesem Sinne einmal vom „unvollendeten Projekt der Moderne“. Die Frage, wohin die Geschichte steuert, wenn sie denn überhaupt nur noch eine Richtung und eine Geschwindigkeit kennt, ist heute entscheidender denn je.

Dieser Gastbeitrag entstammt der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins EINBLICKE.

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