Der Philosoph Alexander Max Bauer beschäftigt sich mit der Frage, wie wichtig Menschen die Erfüllung von Bedarfen ist, damit sie eine Güterverteilung als gerecht empfinden. Seine jüngste Studie befasst sich mit der Verteilung von Wohnraum.
In Deutschland ist Wohnraum insbesondere in den Städten knapp, vor allem junge Familien finden kaum eine bezahlbare Wohnung. Inwiefern ist dieses Problem für einen Philosophen interessant?
Bauer: Gerechtigkeitsfragen sind ein philosophischer Klassiker. Neben der Bedarfsgerechtigkeit sind auch die anderen Formen der Gerechtigkeit wie die Leistungs- und die Chancengerechtigkeit oder das Gleichheitsprinzip relevant, mit denen die Bedarfsgerechtigkeit teils in Konflikt steht. Nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit ist eine Verteilung von Gütern dann gerecht, wenn Menschen Güter in einem Umfang erhalten, der ihrer Leistung entspricht. Bei der Chancengerechtigkeit kann es beispielsweise darum gehen, allen Gesellschaftsmitgliedern die gleichen Chancen auf Erfolg einzuräumen. Das Gleichheitsprinzip kann – in seiner einfachsten Form – bedeuten, dass alle Menschen über dieselbe Menge an Gütern, zum Beispiel die gleiche Menge an Geld, verfügen. Und eine bedarfsgerechte Verteilung liegt dann vor, wenn jedes Individuum mindestens gemäß seinem Bedarf mit Gütern versorgt ist. Gerade das Thema Wohnen bietet sich für Forschungen zu Gerechtigkeitsfragen an, weil wir alle auf Wohnraum angewiesen sind. Deshalb ist es für mich als Philosoph so spannend, sich damit zu befassen.
In Ihrer jüngsten Studie dazu haben Sie die Testpersonen gefragt, wie gerecht sie die Verteilung von Wohnraum in einem fiktiven Szenario einschätzen. Wie sind Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen dabei methodisch vorgegangen?
Wir haben die Studienteilnehmenden in zwei Gruppen aufgeteilt. Der ersten Gruppe haben wir erzählt, dass der Bedarf an Wohnraum für alle Haushalte gleich sei und bei 1.000 Einheiten – eine fiktive Rechengröße – liege. Das zuständige Parlament könne frei entscheiden, wie viel Wohnraum es zur Verfügung stellt. Der Kontrollgruppe haben wir die gleiche Geschichte vorgelegt, allerdings ohne den Wohnraumbedarf zu erwähnen. Wir haben dann untersucht, inwiefern das Ausmaß, in dem unterschiedliche Zuteilungen von Wohnraum den Bedarf decken, und die Einschätzung der Befragten, ob diese Zuteilungen jeweils gerecht sind, zusammenhängen. Insgesamt haben wir in beiden Gruppen je elf Szenarien getestet.
Worin unterscheiden sich diese Szenarien?
Durch die unterschiedlichen Ausmaße an Wohnraum, die das Parlament den Haushalten zur Verfügung gestellt hat. Die elf Szenarien reichen in Schritten von 200 Einheiten von null bis 2.000 Einheiten pro Haushalt. Im ersten Szenario hat das Parlament jedem Haushalt gar keinen Wohnraum zur Verfügung gestellt, im zweiten Szenario 200 Einheiten, und so weiter. Zu diesen Szenarien haben wir den beiden Gruppen jeweils die gleichen zwei Aufgaben gestellt. In der ersten Aufgabe sollten die Teilnehmenden alle elf Szenarien auf einer Skala von null Prozent (überhaupt nicht gerecht) bis 100 Prozent (absolut gerecht) bewerten. In der zweiten Aufgabe haben wir ihnen jeweils zwei nebeneinanderliegende Zuteilungen präsentiert und sie gebeten, anzugeben, ob beziehungsweise wie stark sich die Gerechtigkeit der beiden unterscheidet.
Anscheinend hat das Bewusstsein um Bedarfe einen Einfluss darauf, inwiefern Menschen die Verteilung eines bestimmten Gutes als gerecht empfinden.
Was ist das zentrale Ergebnis der Studie?
Wirft man einen Blick auf die aggregierten Zahlen, dann zeigt sich, dass die Testpersonen aus der Kontrollgruppe die Verteilung umso gerechter finden, je mehr Wohnraum die Haushalte bekommen. In der Gruppe derjenigen, denen wir den konkreten Bedarf genannt haben, gibt es dagegen bei der Gerechtigkeitseinschätzung einen sprunghaften Anstieg an der 1.000er-Marke. Anscheinend hat das Bewusstsein um Bedarfe einen Einfluss darauf, inwiefern Menschen die Verteilung eines bestimmten Gutes als gerecht empfinden. Die Auswertung der zweiten Aufgabe stützt dieses Bild. Die Personen aus der Gruppe, die um den Bedarf wusste, schätzten die Zuteilung von 1.000 Einheiten im Vergleich zu 800 Einheiten als sehr viel gerechter ein. Bei den meisten anderen Vergleichspaaren gab es hingegen nur geringfügige Unterschiede, ähnlich wie in der Kontrollgruppe. Wirft man einen Blick auf die darunterliegenden individuellen Einschätzungen, zeigt sich, dass dieser aggregierten Darstellung ein komplexes Netz verschiedener Gerechtigkeitsvorstellungen zugrunde liegt, die im Fall von Bedarfsinformationen aktiviert werden.
Hat Sie an dem Ergebnis etwas überrascht?
Uns hat überrascht, dass die Testpersonen aus der Gruppe, der wir den Bedarf genannt haben, sich so stark an der Zahl von 1.000 Wohneinheiten orientiert haben und eine entsprechende Zuteilung als so viel gerechter empfinden als eine auch nur etwas geringere Menge an Wohnraum. Ein Großteil der Forschungsliteratur postuliert nämlich, dass die ersten Einheiten eines Gutes den Menschen besonders viel Nutzen bringen müssten – in unserem Beispiel wäre eine sehr kleine Wohnung immerhin deutlich besser als Obdachlosigkeit. Man denke außerdem an das Prinzip vom abnehmenden Grenznutzen, wonach immer größere Mengen eines Gutes den Menschen immer geringere zusätzliche Vorteile bringen. Dies scheint für viele Teilnehmende dieser Gruppe offenbar nicht relevant zu sein.
Die Studie haben Sie in einem interdisziplinären Team aus Philosophie, Ökonomik und Psychologie durchgeführt. Wie ungewöhnlich ist es, dass Sie mit Vertretern anderer Fächer zusammenarbeiten – und welche Vorteile bietet dieses Vorgehen?
Die akademische Philosophie war lange Zeit eher eine Einzelkämpferwissenschaft, in der man für sich im stillen Kämmerlein gearbeitet hat. In einigen Bereichen ist sie das noch heute. Doch spätestens mit der Jahrtausendwende setzte ein Umdenken ein. Interdisziplinär zu arbeiten setzt sich seitdem auch in der Philosophie stärker durch. Viele Bereiche sind inzwischen „empirisch informiert“. Wir machen uns zudem immer häufiger empirische Methoden anderer Disziplinen zu eigen und forschen selbst experimentell. Diese relativ neue Strömung bezeichnen wir als „Experimentelle Philosophie“. Beides – das Empirisch-experimentelle und das Interdisziplinäre – bringen wir in dieser Studie zusammen. Das ist alles andere als trivial. Jede Wissenschaft pflegt ihren eigenen Code, ihre eigenen Begriffe, Konzepte und Annahmen, sodass man erstmal eine gemeinsame Sprache finden muss. Der Vorteil besteht darin, verschiedene Ansätze und Methoden miteinander kombinieren zu können. Jeder blickt auf dasselbe Problem aus einer etwas anderen Perspektive, keine davon erfasst es für sich genommen vollständig. Hier hilft es, sich gemeinsam über die jeweils unterschiedlichen Blickwinkel auszutauschen, um ein vollständigeres Bild erhalten zu können. Am Ende hilft dieser Blick von außen auch ungemein, die eigenen Vorannahmen noch einmal reflektieren zu können.
Wir sehen anhand dieser und anderer Studien, dass vielen Menschen neben der Leistungs- und Chancen- auch die Bedarfsgerechtigkeit wichtig ist.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Ergebnissen?
Wir sehen anhand dieser und anderer Studien, dass vielen Menschen neben der Leistungs- und Chancen- auch die Bedarfsgerechtigkeit wichtig ist. In einer anderen Studie haben wir beispielsweise die Testpersonen Feuerholz an fiktive Menschen zuteilen lassen, die es zum Heizen ihrer Wohnung benötigen. Manche davon wurden als fleißig und andere als selbstverschuldet bedürftig beschrieben. Und obwohl letztere selbst Schuld daran tragen, mehr zu brauchen oder weniger produziert zu haben als andere, haben ihnen viele Testpersonen trotzdem zumindest anteilig das benötigte Feuerholz zugeteilt. Solche Ergebnisse zeigen ebenso wie die Wohnraumstudie, dass viele Menschen Bedarfe als ein wichtiges Kriterium für Gerechtigkeit ansehen.
Was können Politik und Gesellschaft daraus lernen?
Der Gedanke, dass fundamentale Bedürfnisse unabhängig von der Leistung eines Individuums nicht unerfüllt bleiben dürfen, ist eine der Grundlagen unseres Sozialstaates – und eng verknüpft mit dem philosophischen Konzept der Würde. Unsere Studien sind zwar nicht statistisch repräsentativ, bilden aber einen Indikator dafür, dass es den Menschen tatsächlich wichtig ist, diese Würde zu garantieren. Wenn also manche politischen Akteurinnen und Akteure die Sozialhilfe infrage stellen oder teils gar fordern, sie „in besonderen Fällen“ komplett zu streichen und alle Bedarfe zu ignorieren, bewegen sie sich auf schwierigem Terrain.
Interview: Henning Kulbarsch