Wandernde Tierarten sind durch den Klimawandel, den Verlust von Lebensräumen und Umweltverschmutzung besonders stark bedroht. An der Universität und am Institut für Vogelforschung arbeiten mehrere Arbeitsgruppen gemeinsam daran, das Verhalten der Zugvögel genauer zu verstehen, um sie besser zu schützen.
Wenn im Spätsommer über Norderney die Sonne untergeht und es auf der Insel langsam dunkel wird, lässt sich ein eigenartiges Schauspiel beobachten. Nach und nach steigen junge Steinschmätzer aus den Dünen in den dunklen Himmel auf. Einige Vögel drehen wenige Minuten lang ihre Runden, manche sogar bis zu zwei Stunden, ehe sie wieder landen. Manchmal fliegen sie sogar mehrmals in der Nacht auf. „Wir wissen noch nicht genau, warum die Jungvögel das tun“, sagt der Biologe Prof. Dr. Heiko Schmaljohann, der den Vogelzug erforscht. „Wir vermuten aber, dass sie sich Norderney als ihre Heimat einprägen und gleichzeitig ihre ,magnetische Landkarte‘ erlernen, um im nächsten Jahr bei der Rückkehr aus ihren afrikanischen Wintergebieten Norderney wieder punktgenau zu finden.“
Steinschmätzer sind spatzengroße Singvögel. Faszinierend ist, dass sie wie viele andere Singvögel stets nachts und allein ziehen – ohne Eltern, Geschwister und Artgenossen. Das bedeutet, dass die Jungvögel, die zum ersten Mal von Norderney nach Afrika aufbrechen, das Ziel allein finden müssen. „Bis heute ist noch weitgehend unklar, wie das Verhalten genau genetisch verankert ist – wir wissen aber, dass die Gene den Vögeln gewissermaßen ,sagen‘ wann, wie lange und in welche Richtung sie fliegen müssen“, sagt Heiko Schmaljohann. Besonders spannend ist, dass viele Zugvögel eine Art magnetischer Landkarte haben, die sie zur Navigation zwischen den Brut- und Überwinterungsgebieten brauchen. Doch all das sei noch immer recht wenig erforscht.
Schmaljohanns Arbeit ist Teil des Oldenburger Forschungsschwerpunkts zur Tiernavigation. Ein Ziel ist es, die Ergebnisse in Zukunft verstärkt im Naturschutz anzuwenden – etwa bei der Umsiedlung gefährdeter Tierarten. Dafür müssen er und sein Team zunächst einmal das nächtliche Verhalten der Tiere zum Beispiel auf Norderney besser verstehen. Um die Flüge der Steinschmätzer dort genau zu erfassen, befestigt der Forscher winzige Funksender auf dem Rücken der Vögel (siehe Fotostrecke Seite XY). Empfangsstationen entlang der Nordseeküste registrieren dann automatisch, wo sich die Vögel gerade befinden. Mit dieser noch relativ neuen Technik hat Schmaljohanns Forschungsteam auch entdeckt, dass die Jungvögel nachts über Norderney und sogar darüber hinaus kreisen.
Zugvögel entwickeln im Spätsommer „Zugunruhe“
Seine Kollegin Prof. Dr. Miriam Liedvogel erforscht parallel dazu die Genetik und den Stoffwechsel der Zugvögel, die das faszinierende Verhalten auf molekularer Ebene steuern und regulieren. Es ist bekannt, dass Zugvögel im Spätsommer Zugunruhe entwickeln, bevor sie starten. Sie flattern häufig auf und stellen langsam von Tag- auf Nachaktivität um. „Wir wollen in den kommenden Jahren genauer erforschen, was sich dabei in den Körperzellen abspielt – welche Gene werden aktiv, welche Stoffwechselprozesse springen im Hirn, in den Augen und im ganzen Körper an“, erklärt die Hochschullehrerin für Ornithologie und Leiterin des Instituts für Vogelforschung (IfV) in Wilhelmshaven.
Normalerweise arbeitet sie vor allem an Rotkehlchen und Mönchsgrasmücken, zwei anderen Singvogelarten. Zusammen mit Heiko Schmaljohann will sie jetzt aber auch den Steinschmätzer genauer untersuchen, unter anderem mit virtuellen Versetz-Experimenten. Dazu werden Steinschmätzer in ihren Käfigen mithilfe von großen Magnetspulen „virtuell versetzt“. Damit wird ihnen zu bestimmten Zeiten ein Magnetfeld vorgaukelt, das dem Magnetfeld entlang ihrer natürlichen Zugroute entspricht. Das Team analysiert dann, wie sich die Zeit, Intensität und Aktivität der Zugunruhe ändert, und wie der Stoffwechsel reagiert.
Miriam Liedvogel ist gespannt, welche neue Informationen über die genetischen Prozesse und den Stoffwechsel diese Experimente liefern werden. In jedem Fall ist sie davon überzeugt, dass die Genetik des Zugverhaltens sehr viel komplexer ist, als Vogelkundler lange Zeit dachten. Das zeige auch ihre eigene Forschung an der Mönchsgrasmücke, einer in Deutschland weit verbreiteten Singvogelart. Im Frühsommer erfüllt sie viele Gärten mit ihrem klangvollen Gesang. Auch sie zieht teilweise bis Afrika. Interessant sind in diesem Zusammenhang Beobachtungen aus Großbritannien. Seit den 1960 Jahren ziehen einige Mönchgrasmücken, die den Sommer auf dem Festland verbringen, im Herbst teilweise gar nicht mehr gen Süden, sondern in nordwestliche Richtung und überwintern in britischen Gärten. Denn sie werden dort regelmäßig gefüttert und kommen bestens über die Runden. Für Miriam Liedvogel ist das hochinteressant. „Wir fragen uns, wie sich dieses geänderte Zugverhalten in einer Population so schnell genetisch verankern konnte.“
Die zentralen Forschungsfragen der Oldenburger Tiernavigationsforschung – wie finden Singvögel ihr Ziel? Wie lernen sie, wo ihre Heimat ist? Und wie finden sie zurück, wenn sie ganz allein unterwegs sind? – spielen auch beim praktischen Naturschutz eine wichtige Rolle, zum Beispiel, wenn man Vögel wieder in Gebieten ansiedeln möchte, in denen sie ausgestorben sind. „Solche Auswilderungsprojekte klappen nur, wenn die Tiere dem neuen Standort treu bleiben“, sagt Heiko Schmaljohann. Ein Beispiel für eine solche Umsiedlung liefert der Seggenrohrsänger, ein kleiner Moorbewohner, der als Brutvogel aus Deutschland verschwunden ist und als seltenster Singvogel Europas gilt. In einem EU-Projekt wurden 2018 mehrere Jungvögel aus einem Nachbarland mit stabiler Population in ein Naturschutzgebiet in Litauen gebracht. Im folgenden Frühjahr kehrten elf der mit einem Sender ausgestatteten Tiere nach der Überwinterung in Afrika wieder zurück – was als Erfolg gewertet wurde. „Tatsächlich scheitert aber gut die Hälfte solcher Projekte daran, dass die Tiere nicht den Ort der Umsiedelung als neue Heimat anerkennen. Sie wandern vom neuen Ort weg, sicherlich auch um an ihren Geburtsort zurückkehren“, berichtet der Ornithologe. Das heißt: Nur wenn man versteht, wann und wie sich Jungvögel auf ihren Geburtsort eichen, wie die jungen Steinschmätzer auf Norderney, können Auswilderungen erfolgreich sein.
Ein Fünftel aller Arten ist sogar vom Aussterben bedroht
Wie prekär die Lage wandernder Tierarten ist, zeigt eine aktuelle Studie der Vereinten Nationen: Demnach nehmen weltweit 44 Prozent aller Populationen dieser Arten deutlich ab. Ein Fünftel aller Arten ist sogar vom Aussterben bedroht. Es gibt viele Dinge, die zu diesem Negativtrend beitragen können, etwa der Verlust an Lebensräumen. Bei Zugvögeln kommt die Lichtverschmutzung, die nachts ihre Orientierung stören und sie während ihres Zuges in die Irre führen kann. Und im Gewebe der Vögel können sich Pestizide aus der Landwirtschaft anreichern.
Mit diesem Zusammenhang befasst sich Prof. Dr. Sandra Bouwhuis, wissenschaftliche Direktorin am IfV und Dozentin an der Universität. Seit 2017 misst ihr Team den Quecksilbergehalt im Blut und in Federn von Flussseeschwalben, einer Art, die hierzulande „stark gefährdet“ ist – nicht zuletzt, weil Feuchtgebiete und naturnahe Flusslandschaften seltener geworden sind. Kaum eine Institution weltweit hat die Flussseeschwalben so gut erforscht wie das IfV. Auf leeren Frachtkähnen am Banter See in Wilhelmshaven, die mit Kies gefüllt sind, brüten die schlanken Vögel in jedem Frühjahr. Nach dem Schlüpfen wird jedes Küken beringt, kurz vor dem Flüggewerden erhält es zudem einen millimetergroßen Transponder. Über die Jahre wurden 44 Sitzkisten mit Antennen installiert, die die Vögel registrieren, wenn sie darauf landen. Zusätzlich werden die brütenden Vögel an ihren Nestern per Funk registriert, sodass Eltern und Nachkommen in einem Stammbaum miteinander verknüpft werden können. Ob und wann die Vögel jedes Jahr wiederkehren, und wie erfolgreich sie brüten, all das wird in Wilhelmshaven erfasst.
Bis vor zwei Jahren beherbergte die Kolonie rund 750 Brutpaare und 2000 Vögel insgesamt. Dann kam die Vogelgrippe. 2023 zählten Sandra Bouwhuis und ihre Mitarbeiter nur noch 350 Brutpaare. „Die Vogelgrippe war ein Schlag“, sagt sie. „Einfach deshalb, weil die Flussseeschwalben durch Lebensraumverlust und Klimawandel ohnehin schon unter Druck stehen. Zudem reichern sich Schadstoffe in ihrem Körper an, vor allem Quecksilber.“ Bouwhuis‘ Messungen zeigen, dass der Gehalt des Schwermetalls im Blut steigt, wenn die Tiere älter werden. Die Forscherin will in den kommenden Jahren genauer untersuchen, ob die wachsende Quecksilberbelastung den Zug der Seeschwalben beeinflusst. Denn eines ist klar: Das Ziehen ist eine extreme Belastung für die Vögel. Sie verbrennen enorme Mengen an Energie und magern ab. Schwermetalle könnten die Tiere zusätzlich schwächen. Die Forschung an Schadstoffen will Sandra Bouwhuis ausweiten – und zusammen mit Heiko Schmaljohann und Miriam Liedvogel auf Singvogelarten ausdehnen. Denn Schadstoffe gibt es in der Umwelt reichlich. Nicht nur Quecksilber, sondern auch Pestizide, mit denen Getreide und Insekten belastet sein können – die Hauptnahrung vieler Singvögel.
Text von Tim Schröder