Dilemma oder Win-Win-Situation?
Im Forschungsalltag bewegt sich Scheidler in einem fast schon kuriosen Spannungsfeld. Als Informatikerin ist ihr daran gelegen, auf Basis möglichst komplizierter mathematischer Probleme sichere Verschlüsselungssysteme zu bauen. Als Zahlentheoretikerin hingegen sucht sie Methoden, mit denen sich genau diese mathematischen Probleme leichter lösen lassen. „Eine Situation, in der man nur gewinnen kann. Entweder freut sich die Zahlentheoretikerin oder die Informatikerin“, sagt die Wahlkanadierin lachend. Das könnte sich ändern, sobald Quantencomputer nicht mehr nur in der Theorie existieren, sondern in der Realität zum Einsatz kommen. Ihre erwartete Rechenkapazität dürfte alles Dagewesene übersteigen, so Scheidler, und die Kryptographie vor völlig neue Herausforderungen stellen. Eine Entwicklung, die sie mit Spannung verfolgt.
Dass sich Scheidler für die Kryptographie als Forschungsschwerpunkt entschieden hat, war eher Zufall. Vor allem hatte die frischgebackene Diplom-Mathematikerin nach einer Möglichkeit für einen Auslandsaufenthalt nach dem Studium gesucht. Ein befreundeter Kollege ihres damaligen Diplom-Betreuers stellte Kontakt zu einem Wissenschaftler in Kanada her. Von dessen Kryptographie-Vorlesungen war Scheidler fasziniert. „Natürlich“, sagt sie, „das Thema fasziniert ja viele Leute, weil es ein bisschen was von James Bond hat.“ Drei Anläufe brauchte sie, um ihren Doktorvater zu überzeugen, dass Verschlüsselungsmethoden ihr Promotionsthema werden.
Engagement für junge Wissenschaftlerinnen
Als etablierte Zahlentheoretikerin und Kryptographin unterstützt sie heute junge Kolleginnen, die am Anfang dieses Weges stehen. In Kanada hat sie das Netzwerk „Women in numbers“ mit aufgebaut, das nicht nur regelmäßig die gleichnamige Fachkonferenz durchführt, sondern inzwischen Vorbild für ähnliche Initiativen auf der ganzen Welt geworden ist. Im Sommer findet etwa im niederländischen Utrecht die vierte Konferenz der europäischen Zahlentheoretikerinnen statt.
Das Netzwerk will vor allem junge Frauen erreichen, die am Ende ihrer universitären Ausbildung oder am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere stehen, und ihnen helfen, auf dem akademischen Parkett Fuß zu fassen. Die Konferenzen bieten dabei ein Umfeld, bei dem es nicht um Geschlechterfragen geht, sondern um die Sache selbst, um Zahlentheorie.
Für die Helene-Lange-Gastprofessur ist Scheidler vom Oldenburger Mathematiker Prof. Dr. Andreas Stein und seiner Kollegin Prof. Dr. Anne Frühbis-Krüger vorgeschlagen worden. Die Mathematikerin Frühbis-Krüger hat sich in der Vergangenheit selbst oft für Gleichstellung eingebracht, und war an der Universität Hannover auch als dezentrale Gleichstellungsbeauftragte tätig. Das Helene-Lange-Gastprofessorinnen-Programm hat sie mit initiiert. Stein und Scheidler kennen sich bereits seit vielen Jahren und haben mehrfach miteinander geforscht. Im Sommersemester wird die Wahlkanadierin Lehrveranstaltungen in Oldenburg anbieten, will aber während ihres Aufenthalts in Oldenburg auch junge Forscherinnen in ihrem Fachgebiet unterstützen – unter anderem im Mentoringprogramm der Graduiertenakademie, das ebenfalls den Namen der in Oldenburg geborenen Politikerin, Pädagogin und Frauenrechtlerin Helene Lange trägt.
Wer Renate Scheidler über die Mathematik sprechen hört, kann sich gut vorstellen, dass sie dabei junge Kolleginnen mit ihrer Begeisterung für ihr Fach ansteckt – und dafür sorgt, dass die Mathematik auch für sie am Ende eines garantiert nicht bleibt: nur eine Phase.