Bei der aktuellen Handball-WM sind nicht nur die Spieler hohen Belastungen ausgesetzt, sondern auch die Schiedsrichter. Was einen guten Unparteiischen auszeichnet, verrät der Oldenburger Sportwissenschaftler Dirk Büsch im Interview.
FRAGE: Prof. Büsch, die deutsche Handball-Nationalmannschaft fühlte sich bei den letzten beiden Weltmeisterschaften 2015 und 2017 durch Schiedsrichterentscheidungen benachteiligt. Wieviel Einfluss haben Schiedsrichter beim Handball?
ANTWORT: Handball ist ein sehr körperbetonter Sport, weshalb es manchmal unterschiedliche Meinungen über die Auslegung von Regeln gibt. Deswegen braucht man Schiedsrichter, sie sind ein wichtiger Faktor im Spiel. Aber ein guter Schiedsrichter wird kaum auffallen. Für den Ausgang des Spiels sind vor allem die Teams selbst verantwortlich.
FRAGE: Woher kommen dann Diskussionen über schlechte Schiedsrichterleistungen?
ANTWORT: Dahinter steckt ein Prinzip, das in der Sportpsychologie als externale Kausalattribuierung, das heißt äußere Ursachenzuschreibung bekannt ist: Wenn man verloren hat, schiebt man die Schuld auf den Schiri. Gewinnt man, liegt es an der eigenen guten Leistung. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass die Schiedsrichter so objektiv wie möglich agieren.
FRAGE: Wie wird das sichergestellt?
ANTWORT: Es gibt eine hohe Qualitätskontrolle innerhalb des Systems. Die Unparteiischen werden vor dem WM-Turnier in Lehrgängen geschult, es wird besprochen, wie der „Regelspielraum“ interpretiert wird und wie sie pfeifen sollen. Während des Turniers gibt es Schiedsrichter-Beobachter, die die Leistung der Zweier-Gespanne auf dem Feld ständig kontrollieren. Wenn die Beobachter sagen: Dieses Spiel hätte man anders pfeifen müssen, dann kann es passieren, dass ein Gespann nicht mehr zum Einsatz kommt.
FRAGE: Welche Eigenschaften braucht ein guter Handball-Schiedsrichter?
ANTWORT: Im Grunde sind es ähnliche Eigenschaften, wie sie auch Leistungssportler auszeichnen: Wichtig sind beispielsweise eine gute Selbstkontrolle und eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung – also die Erwartung, das Spiel selbstbewusst leiten zu können. Darüber hinaus wissen sie um ihren Einfluss, wollen aber nicht im Vordergrund stehen. Sie sollten um größtmögliche Neutralität bemüht sein.
FRAGE: Worauf kommt es während des Spiels an?
ANTWORT: Ein entschiedenes Auftreten ist wichtig, aber auch die Zusammenarbeit der beiden Schiedsrichter untereinander und die Kommunikation mit der Wettkampfleitung am Zeitnehmertisch. Schiedsrichter-Beobachter beurteilen beispielsweise, ob die Schiedsrichter das Spiel unter Kontrolle haben und ob sie Fouls konsequent und einheitlich ahnden, ob sie eine „Linie“ haben.
FRAGE: Welche Faktoren setzen die Unparteiischen unter Druck?
ANTWORT: Dazu gibt es beim Handball bislang noch nicht viele Studien. Deswegen wollen wir in den nächsten zwei Jahren in einem Forschungsprojekt untersuchen, wie sich zum Beispiel konditionelle Belastungen, aber auch psychischer Druck auf die Entscheidungen der Schiedsrichter auswirken.
FRAGE: Handballspiele sind in den letzten Jahren schneller und dynamischer geworden. Was bedeutet das für die Schiedsrichter?
ANTWORT: Auch bei ihnen spielt die Kondition eine große Rolle. Die WM-Schiedsrichter müssen beispielsweise einen Fitness-Test bestehen, um für das Turnier zugelassen zu werden. Wir wissen aber nicht, inwieweit die körperliche Belastung die Entscheidungen der Schiedsrichter beeinflusst, ob sie vielleicht im Verlauf des Spiels und bei zunehmender Beanspruchung mehr Fehler machen und ob das von der Art des Fouls abhängt – ob sie etwa technische Fouls unter Belastung besser erkennen als körperliche Fouls.
FRAGE: Wie wollen Sie das herausfinden?
ANTWORT: In einem gemeinsamen Projekt der hiesigen Arbeitsbereiche „Sport und Bewegung“ und „Sport und Training“ führen wir in den nächsten zwei Jahren Tests mit Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern aus den verschiedenen Kadern des Deutschen Handballbundes durch, von Nachwuchs-Referees bis zu international eingesetzten Schiedsrichtern. Bei ihren Lehrgängen absolvieren die Schiedsrichter Ausdauertests. Währenddessen zeigen wir ihnen Videos mit realen Spielsituationen, die sie beurteilen sollen. Insgesamt müssen sie abhängig von ihrer Kondition dreißig oder mehr Entscheidungen treffen, während sie Strecken von mehr als 2000 Metern bei steigender Belastung laufen. Wir simulieren zunächst nur die körperliche Belastung, später wollen wir auch psychische Stressfaktoren ergänzen, etwa Zuschauerlärm.
FRAGE: Wie stark beeinflussen die Zuschauer die Schiedsrichter denn?
ANTWORT: Aus anderen Sportarten gibt es dazu mehrdeutige Erkenntnisse, daher wollen wir es für den Handball nun systematisch untersuchen. Handball-Hallen sind oft wahre Hexenkessel: Gerade bei der WM gibt es Nationen mit sehr lautstarken Zuschauern, die mit Trommeln und Klatschpappen Lärm erzeugen.
FRAGE: Hat die deutsche Mannschaft also bei der aktuellen WM einen Heimvorteil?
ANTWORT: Das glaube ich nicht. Zumindest muss es nicht zwingend einen positiven Heimspiel-Effekt geben. Denn die Erwartung, dass man bei Heimspielen Vorteile hat, erzeugt einen hohen sozialen Druck. Der kann wiederum dazu führen, dass eine Mannschaft schlechter spielt als erwartet. Das DHB-Team muss jetzt die Diskussion darüber aushalten, ob die WM im eigenen Land ein Vor- oder Nachteil ist.
FRAGE: Bei der letzten Heim-WM 2007 war es anscheinend kein Nachteil: Damals ist das deutsche Team Weltmeister geworden.
ANTWORT: Das stimmt, allerdings ist die Mannschaft so schlecht ins Turnier gestartet, dass kaum jemand noch damit gerechnet hat, dass sie gewinnen könnten. Aber wenn ein Team im Verlauf eines Turniers zusammenwächst und gut funktioniert, kann alles passieren.
FRAGE: Wer gewinnt dieses Jahr den Titel?
ANTWORT: Favoriten sind Frankreich und Dänemark, aber die Leistungsdichte ist insgesamt so hoch, dass ab dem Viertelfinale im Prinzip jeder jeden schlagen kann. Ich drücke natürlich dem deutschen Team die Daumen und werde ab heute mitfiebern.
Interview: Ute Kehse
Prof. Dr. Dirk Büsch leitet den Arbeitsbereich Sport und Training am Institut für Sportwissenschaft der Universität Oldenburg. Nach seiner Promotion an der Universität des Saarlandes war er in den 1990er Jahren mehrere Jahre lang Co-Trainer und trainingswissenschaftlicher Berater beim THW Kiel. Bis Ende 2018 war Büsch Wissenschaftskoordinator des Deutschen Handballbundes (DHB), seit 2019 leitet er das Netzwerk Wissenschaft des Verbands.