Andauernder und starker Ostwind hat im Frühjahr 2018 die Strömungsverhältnisse in der Nordsee umgedreht. Das haben Oldenburger Meereswissenschaftler auch dank Beteiligung von Bürgern herausgefunden.
Frühjahr 2018. An Bord des Forschungsschiffs „Heincke“ wagen sich die Wissenschaftler nur dick vermummt nach draußen. Es stürmt, die Wellen sind bis zu fünf Meter hoch, ein eisiger Ostwind fegt über das Meer. Taue und Geräte vereisen, die Füße frieren an Deck fest. Doch die Forscher befinden sich nicht in arktischen Gewässern, sondern auf der Nordsee. Sie sind unterwegs, um unter anderem zu untersuchen, nach welchen Mustern sich an der Oberfläche treibender Plastikmüll im Meer ausbreitet und welche Wege er nimmt. Dazu werfen sie an diesen kalten Spätwintertagen vor Borkum und Sylt unter anderem 1.600 Holztäfelchen ins Wasser und lassen diese von der Strömung davontragen.
Was die Wissenschaftler damals noch nicht ahnten: Der andauernde Ostwind sollte die Strömung der Nordsee komplett umdrehen und die Täfelchen nach Westen an die britische Küste treiben. Nun hat ein Team des Instituts für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) Universität Oldenburg und des Helmholtz-Zentrums Geesthacht um den Ozeanografen Prof. Dr. Emil Stanev die Daten ausgewertet und die Ergebnisse im Fachmagazin „Continental Shelf Research“ veröffentlicht. Einen wesentlichen Beitrag zu der Beobachtung lieferten dabei Laienforscher: Bewohner der britischen Ostküste hatten die Fundorte der Holztäfelchen gemeldet. Anhand weiterer Daten und Modellrechnungen konnten die Wissenschaftler nachvollziehen, dass das Nordseewasser nicht wie üblich gegen den Uhrzeigersinn, sondern in entgegengesetzter Richtung strömte.
Holztäfelchen als moderne Flaschenpost
Die Strömung in der Nordsee ist von den meist westlichen Winden und den Gezeitenwellen des Atlantiks beeinflusst; letztere dringen aus Westen durch den Ärmelkanal und aus Norden entlang der britischen Ostküste in das flache Meer. In der Folge kreist das Wasser der Nordsee gegen den Uhrzeigersinn. Wirft man etwa auf der Seeseite Borkums eine Flaschenpost ins Meer, würde diese entlang der ostfriesischen und nordfriesischen Inseln nach Osten und nach Norden treiben. „Bisher ist nur wenig bekannt darüber, wie extreme Windverhältnisse dieses Strömungsmuster ändern können“, erläutert Stanev. Dies sei jedoch wichtig zu wissen, etwa um Vorhersagen zu treffen, wie sich Plastikmüll oder andere Schadstoffe in der Nordsee verteilen.
Die Wege von Plastikmüll im Meer nachzuvollziehen, ist eines der Ziele des vom Niedersächsischen Wissenschaftsministerium Projekts „Makroplastikmüll in der südlichen Nordsee – Quellen, Wege und Vermeidungsstrategien“. Wissenschaftler und Techniker ICBM haben dafür spezielle Driftkörper mit Sendern entwickelt. Diese treiben, ähnlich wie der Müll, an der Meeresoberfläche und senden kontinuierlich ihre Position. „So können wir direkt die Oberflächenströmung der Nordsee beobachten und dies mit Modelldaten vergleichen“, sagt Jens Meyerjürgens, der die Drifter mitentwickelt hat. Zudem setzen die Forscher die Holztäfelchen aus unbehandeltem Fichtenholz als moderne Flaschenpost ein: Diese sind nummeriert und tragen eine Inschrift, die Finder darum bittet, den genauen Fundort auf einer Webseite zu melden.
Drifter trieben bis nach Schottland
Im Frühjahr 2018 setzten die Forscher zusätzlich zu den Holztäfelchen einen mit GPS-Gerät ausgestatteten Drifter vor Borkum aus. Bewohner der britischen Ostküste meldeten in den folgenden Wochen insgesamt fast 800 Fundorte der hölzernen Boten. Die vor Borkum ausgesetzten Täfelchen trieben zwischen 450 und 560 Kilometer weit an die Küste zwischen Burniston, nördlich von Scarborough, und Peterlee in Nordostengland. Die vor Sylt ausgesetzten Holzdrifter legten bis zu 600 Kilometer zurück und erreichten die Küste weiter nördlich zwischen Lynemouth, Northumberland, und Dunbar in Südschottland. Der GPS-Drifter bewegte sich mit der Strömung ebenfalls in nordwestliche Richtung. Seinen Weg über mehr als 400 Kilometer konnten die Forscher zwei Monate lang verfolgen.
Eine Analyse der Wetterdaten zwischen Mitte Februar und Ende April zeigte, dass der Wind in dieser Zeit hauptsächlich und teilweise sehr stark aus östlicher Richtung wehte. Mit mathematischen Modellen, die unter anderem die Windstärke und Windrichtung sowie Wellenbewegungen berücksichtigten, berechneten die Wissenschaftler den Weg der Holzplättchen durch die Nordsee sowie deren Anlandung an der Küste. „Unsere Modellergebnisse stimmten sehr gut mit den tatsächlichen Fundorten überein“, berichtet Marcel Ricker, der ebenfalls am Projekt beteiligt ist. „Wir konnten dieses ungewöhnliche Ereignis vor allem auch deswegen so gut analysieren, weil sehr viele Bürger die Fundorte der Holzplättchen gemeldet haben“, ergänzt Stanev.
Weitere Berechnungen hätten gezeigt, dass sich die Strömung in der Nordsee in den vergangenen 40 Jahren nur vier Mal noch stärker verändert hatte, als es im vergangenen Jahr der Fall war, erläutert Stanev. Zu wissen, unter welchen Bedingungen dies passiere, sei nicht nur wichtig, um zu verstehen, wie sich Plastikmüll im Meer verteile. „Solche Veränderungen können auch weitreichende Einflüsse auf die biologischen und chemischen Prozesse in dem flachen Küstenmeer haben“, sagt der Meeresforscher.