Am 22. April 2024 jährt sich der Geburtstag Immanuel Kants zum 300. Mal. Wer über Krieg und Frieden, Verantwortung oder Objektivität nachdenkt, findet in den Schriften Kants viele Anregungen, sagt der Philosoph Matthias Bormuth.
In diesem Jahr begehen wir anlässlich des 300. Geburtstages von Immanuel Kant das „Kant-Jahr“. Wie verlief sein Leben?
Immanuel Kant ist als Aufklärer nicht auf einen Nenner zu bringen. Man nannte ihn den „Weltweisen“, obwohl er Königsberg nie verließ. Er kam aus einfachen Verhältnissen, genoss eine hervorragende Schulbildung und begann seine Karriere als Naturforscher, der elegant zu schreiben verstand. Als der aufstrebende Gelehrte die aufklärerischen und oft obrigkeitskritischen Werke Rousseaus las, änderte er Leben und Denken. Kant gab den akademischen Dünkel auf, wollte den „Menschen ehren“ und helfen, „die Rechte der Menschheit herzustellen“.
Vielleicht ließ auch das Beispiel seines eigenen Lebens, das erst mit vierzig Jahren geistig zur vollen Freiheit kam, Kant feststellen, dass die Gesellschaft nur „allmählich“ fortschreite. Der Aufklärer war Realist und Idealist zugleich. Er verkannte nicht die herben Realitäten im absolutistischen Preußen. Aber er setzte auf den Prozess der Aufklärung, vor allem seitdem die Französische Revolution die umwälzenden Folgen des von Rousseau beschriebenen Volkswillens zeigte. Kant schwärmte, solch ein Ereignis könne man nicht vergessen.
Kant selbst hat im „Reich des Gedankens“ eine Revolution ausgelöst. Aber erst spät erlangte er eine feste Professur, dann schwieg er zehn Jahre und legte mit Ende Fünfzig sein Hauptwerk, die „Kritik der reinen Vernunft“, vor. Es folgten weitere Kritiken und Schriften zu Aufklärung, Moralphilosophie, Religion, Politik und Anthropologie.
Welche Ideen Kants sind heute noch besonders aktuell?
Sein Denken spiegelt sich besonders wider in der Idee der „Menschenwürde“ und der Maxime des „kategorischen Imperativs“, wonach nur solche Handlungen moralisch vertretbar sind, deren Maxime eine jederzeitige Gültigkeit für alle Menschen beanspruchen kann. Auch seine einzigartige „Kritik der Erkenntnis“ ist nach wie vor aktuell. Objektivität ist demnach nur begrenzt möglich: Unsere Wahrnehmungen sind Kant zufolge gleichermaßen durch Zeit und Raum bedingt. Die Einsichten gehen vom Menschen aus, sind aber gebunden an Tatsachen, die nicht zu missachten sind. Um zu einer einigermaßen objektiven Erkenntnis zu kommen, müssen wir intersubjektive Kohärenz anstreben. Damals wirkte Kants Bewusstsein für die Subjektivität des Erkennens umstürzend, im Zeitalter von „Fake News“ ist seine Theorie immer noch relevant für die Praxis des Lebens. Diese Ideen bilden bis heute sein moralphilosophisches Vermächtnis.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, lautet das wohl berühmteste Zitat Kants. Welche selbstverschuldete Unmündigkeit sehen Sie in unserer heutigen Gesellschaft?
„Mündigkeit“ ist bei Kant verknüpft mit dem Anspruch des „Selbstdenkens“. Das digitale Zeitalter mit der grenzenlosen und unkontrollierten Kommunikation bietet dafür, wie Jürgen Habermas in seinem 2022 erschienenen Buch „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ zeigt, nur unzureichende Voraussetzungen. Marcus Willaschek, einer der besten Kant-Kenner, hat jüngst in seinem Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“ deutlich unterstrichen, wie gefährdet deshalb das mündige Denken ist. Denn „völliges Fehlen staatlicher Kontrolle von Medien und Internet“, könne dazu führen, dass „kommerzielle Interessen, Ideologien und Verschwörungstheorien“ die Meinungsbildung beherrschen.
Kants Werke haben viele andere Philosophinnen und Philosophen beeinflusst, unter anderem Hannah Arendt und Karl Jaspers. Welche Rolle nimmt Kant in ihren Abhandlungen ein?
Beide sahen Kant als „Weltbürger der Freiheit“, dessen Beispiel im totalitären 20. Jahrhundert leuchtete, das die menschliche Bewegungsfreiheit im Denken und Handeln tödlich einschränkte. Jaspers, der in Oldenburg geborene Existenzphilosoph, ließ sich von seiner jüdischen Meisterschülerin Arendt nach dem Zweiten Weltkrieg erklären, wie man „finsteren Zeiten“ im politischen Denken begegnet, indem man offene Diskussionen im demokratischen Gemeinwesen fördert. Aufklärung hieß für sie, Nachdenklichkeit und Urteilskraft zu wecken.
Kant hat sich in mehreren Schriften über verschiedene „Rassen“ von Menschen und zudem verächtlich über das Judentum und Menschen jüdischen Glaubens geäußert. Welche Sichtweisen Kants sind (nicht erst heute) mit Vorsicht zu genießen?
Kant hatte ein genaues wie streitbares Interesse an allen Menschen. Das zeigt sich etwa in seiner berühmten Kontroverse mit dem Naturforscher Georg Forster, der mit James Cook die Welt umsegelte. Manfred Geier zeigt in „Der Fall Immanuel Kant“, dass sein „eurozentrischer Blick auf fremde Lebensformen“ in den Vorlesungen durchaus rassistische Tendenzen hatte. Angesichts des zeitgenössischen Forschungsstands ist diese heute kritikwürdige Meinung jedoch frei von kruden Vorurteilen. So beschränkt diese westliche Selbstherrlichkeit in der globalisierten Welt erscheint, so wenig macht sie Kant zum „Rassisten“ im modernen Sinne. Jeder Mensch kann nur im Kontext seiner Zeit moralisch beurteilt werden. Und niemand ist frei von „blinden Flecken“, die man im Gesamt seines Denkens zu beurteilen hat. Dies trifft auch auf Kants Bemerkungen zum Judentum zu. Selbst bei Hannah Arendt findet man herbe Äußerungen gegenüber dem osteuropäischen Judentum, das nicht wenigen seiner assimilierten Vertreter peinlich war. Wir alle würden uns wundern, welche Vorurteile uns mit dem Abstand der Zeit aufgezeigt werden können.
Eine zentrale Schrift Kants ist auch „Zum ewigen Frieden“, in der er die Grundlagen für stabile Friedensverhältnisse zwischen Staaten erläutert. Auch mit Blick auf aktuelle Kriege wie in der Ukraine und in Nahost: Was braucht es laut Kant, damit dauerhaft Frieden herrschen kann?
Bei Kant ist vor allem die Bereitschaft vorausgesetzt, sich an vertragliche Vereinbarungen zu halten und nichts in kriegerischen Auseinandersetzungen zu tun, was einen künftigen Friedensschluss unmöglich machen würde – etwa brutale Kriegsverbrechen zu begehen. Seine Vorstellung einer demokratischen wie diplomatischen Absprache beruht darauf. Insofern sind Machthaber, die sich ausdrücklich nicht an Absprachen halten, keine Vertragspartner, denen man mit friedlichen Mitteln begegnen kann. Somit war Kant durchaus Realist, der Gewaltanwendung für ein verantwortbares Mittel hielt, wenn denn der Frieden das wirkliche Ziel der Politik blieb.
Interview: Henning Kulbarsch