Über den Autor

Der Historiker Prof. Dr. Matthias Weber ist Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte des östlichen Europa (BKGE). Zu Schwerpunkten seiner Forschung gehören die Geschichte Schlesiens, der Frühen Neuzeit, der Habsburger Monarchie sowie Deutsche Rechtsgeschichte. Weber gehört unter anderem dem Lenkungsausschuss des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Warschau, der Historischen Kommission für Schlesien sowie dem Herder-Forschungsrat an.

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Prof. Dr. Matthias Weber

Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa

  • Kant ist nicht nur Gegenstand in Werken der modernen Kunst, sondern auch aktueller Ausstellungen, wie Anfang dieses Jahres in der Bundeskunsthalle. Foto: Paul Razlaf / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

  • Königsberg war zu Kants Zeiten "eine pulsierende, multiethnische und multikonfessionelle, kurz: eine weltoffene Stadt", so Historiker Matthias Weber; hier eine Stadtansicht von Königsberg um 1740 von Johann G. Ringlin. (c) Ostpreußische Kulturstiftung

Phantasie und Philosophie ohne Grenzen

Horst Janssen oder Joseph Beuys, Dáli oder Magritte – viele Künstler widmeten in den zurückliegenden 100 Jahren Werke Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich zum 300. Mal jährt. Ein Gastbeitrag über Kant und die moderne Kunst von Matthias Weber.

Horst Janssen oder Joseph Beuys, Dáli oder Magritte – viele Künstler widmeten in den zurückliegenden 100 Jahren Werke dem Philosophen Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich zum 300. Mal jährt. Zugleich nimmt ein Text von Kant eine Schlüsselrolle für die Theorie des Ästhetischen bis hin zur heutigen Kunstkritik ein. Ein Gastbeitrag über Kant und die moderne Kunst von Historiker Matthias Weber.

„Schöne Kunst dagegen ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßig ist, und obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert.“

Der Philosoph Immanuel Kant, vor 300 Jahren geboren, ist eine herausragende Persönlichkeit der europäischen Aufklärung und gilt als ein Wegbereiter der Moderne. Seine Geburtsstadt Königsberg, die Hauptstadt Ostpreußens, hat er zeitlebens fast nie verlassen – und trotzdem war er gedanklich ein Weltbürger. Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch, denn Königsberg war damals eine pulsierende, multiethnische und multikonfessionelle, kurz: eine weltoffene Stadt.

Königsberg heißt heute Kaliningrad und liegt seit Februar 2022 hinter einem neuen Eisernen Vorhang. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind sämtliche institutionellen Kontakte zwischen Einrichtungen in Deutschland und Kaliningrad abgebrochen. Eine gemeinsame fachliche, gesellschaftliche oder künstlerische Würdigung des großen Philosophen in seiner Heimatstadt ist nicht möglich. Die sich schon lange abzeichnende propagandistische Vereinnahmung Kants durch Russland in Kaliningrad erreicht im Jubiläumsjahr ihren Höhepunkt.

Fast jede(r) vermag mit Immanuel Kant etwas zu verbinden: sei es seine Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“, den Kategorischen Imperativ, die Kopernikanische Wende oder neuerdings auch die Frage, ob der Philosoph womöglich ein Rassist und Antisemit war. Allgemein gilt Kants Werk als schwer verständlich, obwohl dessen Grundfragen eingängig sind: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Und Kants Themen sind derzeit höchst aktuell, zum Beispiel sein großartiger philosophischer Entwurf „Vom ewigen Frieden“ (1795). Viele stellen sich gegenwärtig die Frage, ob Friede zwischen den Staaten überhaupt möglich ist.

An moderne Kunst dürfte bei Kant kaum jemand denken, außer vielleicht diejenigen, die das Kapitel über die „ästhetische Urtheilskraft“ in der „Critik der Urtheilskraft“ (1790) gelesen haben, das sich mit dem Schönen und mit dem künstlerischen Genie beschäftigt – daraus stammt auch das Eingangszitat. Ob der Autor ahnte, welche Folgen gerade dieser Gedanke für die Kunst haben sollte?

Nach der „Critik der reinen Vernunft“ (Riga 1781) und der „Critik der practischen Vernunft“ (Riga 1788) ist die „Critik der Urtheilskraft“ (Berlin, Liebau 1790) Kants drittes Hauptwerk; darin entwickelt er eine Theorie der Ästhetik, bezogen auf das Schöne in der Natur wie in der Kunst. Dies ist keine einfache Lektüre, doch wurde sie zu einem Schlüsseltext für die Theorie des Ästhetischen in der Kunst bis hin zur heutigen Kunstkritik.

Kant definiert darin das Schöne als ein nicht zweckorientiertes Wohlgefallen ohne weitere begriffliche Festlegungen und beschreibt das zwar subjektive aber dennoch verallgemeinerbare Geschmacksurteil und die ästhetische Erfahrung als freies Spiel von Erkenntnisvermögen, Einbildungskraft, Sinnlichkeit und Verstand. Es sind diese Erkenntnisse, die dazu geführt haben, dass die „Critik der ästhetischen Urtheilskraft“ vielfach für das philosophische Werk gehalten wurde, das der modernen Kunst den Weg geebnet hat.

Allerdings ist bisher noch nicht aufgefallen und deshalb auch nicht erforscht worden, dass viele Künstlerinnen und Künstler weltweit ihre Werke Immanuel Kant und seinem Werk gewidmet haben und sich in der Sprache ihrer Kunst mit Kants Philosophie auseinandersetzen.

Große Namen sind darunter: Joseph Beuys, dessen Ready-Made „Ich kenne kein Weekend“ (1971/72) eine Reclam-Ausgabe der „Critik der reinen Vernunft“ und eine Maggi-Flasche montiert in einen Koffer zeigt und Anlass zu manchen Spekulationen bietet; Salvador Dalí, der seiner ganz persönlichen Auseinandersetzung mit Kant in einem Objekt „Monumento à Kant“ (1935) Ausdruck verliehen hat; der Oldenburger Horst Janssen, der gleich mehrere Kant-Porträts geschaffen und eines davon dem einstigen Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Geburtstag gewidmet hat.

Auch Anselm Kiefer ist zu nennen, der das großartige Kant-Zitat „Der bestirnte Himmel über mir…“ in zahlreichen Arbeiten variiert und gleichfalls großartig inszeniert hat; der US-amerikanische Maler Jack Levine, dessen Ölgemälde „Feast of pure Reason“ (1937) die Kant’sche Vernunft mit Sozialkritik verband; sowie der Surrealist René Magritte, dessen rätselhaftes Werk „La pure raison“ (1937) Philosophie in Malerei übersetzt.

Oder die amerikanische Konzeptkünstlerin und Philosophin Adrian Piper: Ihre Installation „The probable Trust Registry: The Rules of the Game‚ 1-3“ übersetzt den Kategorischen Imperativ ganz unmittelbar in unseren Alltag. Schließlich wirft Yinka Shonibare mit einem kopflosen Kant im Zyklus „The Age of Enlightenment“ (2008) die Frage nach dem Zusammenhang von Aufklärung und Kolonialismus auf.

Während sich im Februar 2022 russische Panzer ihrem unweit von Kiew gelegenen Atelier näherten, schuf die ukrainische Künstlerin Alevtina Kakhidze eine hochemotionale Zeichnung mit der Unterschrift Thinking About Immanuel Kant on 26.02.2022. Sie stellt darin die Frage, ob der von Kant beschriebene Ewige Friede jemals erreichbar sein wird. Die Panzer wurden schließlich von der ukrainischen Armee wenige Kilometer entfernt aufgehalten – Kakhidze lebt heute noch immer in der Ukraine.

Das künstlerische Spektrum ist in jeder Hinsicht heterogen. Stilistisch reicht es vom US-amerikanischen sozialkritischen Realismus der 1930er-Jahre über Surrealismus, Dadaismus oder Minimalismus bis hin zum klassischen Realismus der Gegenwart, über Grotesk-Malerei zur Pop-Art und zur digitalen Kunst. Die Phantasie und Kreativität kennen dabei keine Grenzen, ebenso wie die Philosophie – davon zeugt die bis heute bei Künstlerinnen und Künstlern weltweit anhaltende Auseinandersetzung mit Kants Ideen. Dem Weltbürger würde das wohl gefallen.

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