Welche Rolle spielt das Christentum beim Aufrechterhalten von Rassismus? Mit dieser Frage hat sich der Theologe Dominik Gautier befasst. In seiner Forschung setzt er sich kritisch mit dem christlichen Glauben auseinander und widmet sich aus theologischer Perspektive weiteren drängenden Fragen unserer Zeit – wie der nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Ein Gespräch.
Herr Gautier, Sie beschäftigen sich unter anderem aus theologischer Perspektive mit dem Thema Rassismus und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Warum?
Bereits im Studium habe ich mich mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, etwa mit Martin Luther King, beschäftigt und mich gefragt: Was sagt eigentlich die Theologie zum Thema Rassismus? Nach christlicher Überzeugung sind ja vor Gott alle Menschen gleich. Das heißt, die Theologie müsste sich gegen Rassismus positioniert haben. Das ist aber nicht so. Vielmehr ist sie aus meiner Sicht verstrickt in das Aufrechterhalten von rassistischen Vorstellungen, und es gibt nur wenige theologische Auseinandersetzungen mit dem Thema.
Hat die Theologie nicht einen sehr viel kritischeren Auftrag?
Ja. James H. Cone – der Begründer der Black Theology in den USA, also derjenigen Theologie, die sich aus der Bürgerrechtsbewegung und der Black-Power-Bewegung entwickelt hat – hat daher in den 1960er-Jahren als schwarzer Theologe in den USA die hauptsächlich von Weißen betriebene akademische Theologie kritisiert. Ihm zufolge macht sich die Theologie auch dadurch mitschuldig am Rassismus, dass sie schweigt zu dem Thema. Cone hat deutlich gemacht: Wenn in der Mitte des Christentums ein von staatlicher Gewalt Getöteter, nämlich Jesus, steht, dann muss die Theologie einen Sinn entwickeln für die Kritik an staatlicher Gewalt – etwa Polizeigewalt. Das heißt auch: Wenn das Christentum sich selbst ernst nimmt, dann muss es sich bewähren, indem es rassismuskritisch ist. Die Idee meiner Dissertation war daher, eine selbstkritische Theologie zu entwickeln.
Womit haben Sie sich konkret befasst?
Ich habe analysiert, wie sich der deutsch-amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Rassismus und der Bürgerrechtsbewegung auseinandergesetzt hat. Niebuhr sagte, anders als andere weiße Theologen, dass die Kirchen antirassistisches Engagement als zentrale Aufgabe begreifen müssen. Aber, das war die Analyse meiner Dissertation, er hat das nicht immer eingehalten, sondern Rassismus auch heruntergespielt. Niebuhr befürwortete zwar das Anliegen der Bürgerrechtsbewegung. Doch er sagte auch, dass die Beteiligten zu ungeduldig auf Veränderungen gedrängt hätten. Er fand, die Bewegung hätte eher eine langfristige Perspektive einnehmen müssen. Das ist natürlich problematisch, weil er mit dem „noch nicht jetzt, sondern erst später“ einen sozialen Missstand bekräftigt hat – und zwar auch mit dem Verweis auf Gott.
Also ein Vertrösten …
Ja. Mir war dabei auch wichtig, als eine weiße Person eine andere weiße Person zu betrachten und aus den Fehlern dieser Person zu lernen. Das Christentum ist verwickelt in eine Vorstellung von weißer Vorherrschaft. Damit müssen wir uns auseinandersetzen – durch differenzierte Forschung. In der Systematischen Theologie befassen wir uns damit, den christlichen Glauben in der Gegenwart für die Gegenwart zu erläutern und dabei den Glauben auch zu kritisieren und zu zeigen, dass der Glaube etwas anzubieten hat. Dabei geht es nicht darum zu missionieren, sondern zu reflektieren und aus der Glaubensperspektive ein anderes Bewusstsein für die Probleme unserer Zeit zu entwickeln.
Sie sind derzeit an einem interdisziplinären DFG-Netzwerk beteiligt. Worum geht es darin?
In dem Netzwerk befassen sich deutsche und US-amerikanische Forschende der Amerikanistik, der Geschichte und der Theologie aus transatlantischer Sicht mit der Bürgerrechtsbewegung. Ziel ist unter anderem zu untersuchen, wie das Erbe der Bürgerrechtsbewegung in den USA und Deutschland auch heute noch nachwirkt und weiterentwickelt wird. Das Netzwerk hat Anfang 2022 seine Arbeit aufgenommen.
Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Verbindung zwischen Rassismus, Umwelt und Gerechtigkeit – aus theologischer Sicht. Aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ist in den 1980er-Jahren die sogenannte Environmental-Justice-Bewegung entstanden – unterstützt von der United Church of Christ. Diese reformierte Kirche hatte 1987 einen wegweisenden und viel beachteten Bericht veröffentlicht, der zeigte, dass Giftmüll oft an solchen Orten abgelagert wurde, an denen vor allem schwarze Menschen oder Menschen lateinamerikanischer Herkunft leben. Von den Folgen der Naturzerstörung sind demnach vor allem nichtweiße Menschen betroffen. Künftig möchte ich mich der Frage widmen, wie eine Theologie aussehen kann, die sich im Gespräch mit dieser Bewegung befindet – und ernst nimmt, dass es im Christentum um Gerechtigkeit sowohl für von Diskriminierung betroffene Menschen als auch für die mehr-als-menschliche Natur gehen sollte.
Sie setzen sich mit der These auseinander, dass das Christentum mit schuld sei an der Zerstörung der Natur.
Ja, diesen Gedanken hat implizit bereits der Soziologe Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt: Besonders die reformierte Tradition des Calvinismus hätte den Kapitalismus befördert und damit – weitergedacht – die Zerstörung der Erde mit sich gebracht. Aus meiner Sicht muss diese These aber stark differenziert werden. Denn Johannes Calvin, auf den sich die reformierte Tradition beruft, sagt auch, dass die Natur auf Gott verweist. Demnach muss der christliche Glauben gerade nicht das Sich-Erheben über die Natur, sondern die Solidarität mit der Natur betonen. Mich interessiert, wie diese Ideen des 16. Jahrhunderts rezipiert worden sind, beispielsweise in Form von Landschaftskunst und Nature Writing. Autoren wie Henry David Thoreau, bekannt unter anderem für seine Naturbeschreibungen und Aufrufe zum Protest gegen Rassismus, stehen ebenso in der reformierten Tradition wie John Muir, der die Nationalparkbewegung in den USA begründet hat.
In diesem Zusammenhang haben die Ideen der reformierten Theologie zum Schutz der Natur beigetragen.
Der Naturschutzpolitik, wie sie im 19. Jahrhundert in den USA entstanden ist, haben wir die Nationalparks zu verdanken. Gleichzeitig war das Bewahren des Waldes, der Wildnis, häufig mit der eugenischen Bewegung, der Bewahrung der „weißen Rasse“ verknüpft. Muir selbst hat indigene Menschen abgewertet, die Natur hingegen überhöht. Auch im Nationalsozialismus beispielsweise war der Naturbegriff ideologisch aufgeladen. Deutlich wird dies an der Rede vom „deutschen Wald“ und an der Frage nach „Blut und Boden“. Hier zeigt sich die Verstrickung der Naturschutzpolitik in nationalistisches, antisemitisches Denken. Ich denke, eine theologische Auseinandersetzung mit der Natur muss gerade solche Naturideologien zurückweisen.
Führt dies zu einer eher nüchternen Betrachtungsweise der Natur?
Aus Sicht der reformierten Theologie ist die Natur keine ethische Richtschnur, nicht „Heimat“ oder „Mutter Erde“, sondern zunächst schlicht die mit den Menschen gemeinsam auf Gott angewiesene Schöpfung. Diese dürfen wir in ihrer Schönheit wahrnehmen. Wir müssen aber auch die Abgründe der Natur, zum Beispiel das Entstehen lebensbedrohender Viren, klar benennen. Ja, mir geht es also um einen nüchternen und zugleich solidarischen Umgang mit der Natur. In meiner Forschung befasse ich mich mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur und bringe dabei die reformierte Tradition in ein Gespräch mit den Kulturwissenschaften. Dabei zeigt sich überraschenderweise, dass beide Disziplinen sich mit ähnlichen Themen beschäftigen.
Zum Beispiel?
Beide befassen sich gerade mit dieser Überhöhung der Natur – aus unterschiedlichen Perspektiven. Beispielsweise setzt sich der US-amerikanische Rechts- und Kulturwissenschaftler Jedediah Purdy in seinem Buch „After Nature. A Politics for the Anthropocene“ kritisch mit der US-amerikanischen Umweltpolitik und einer Ideologisierung der Natur auseinander. Er fordert, dass wir die Natur im Anthropozän – im Zeitalter des Menschen – nicht mehr zur Folie unserer eigenen Projektionen machen, sondern sie nüchtern in ihrer Komplexität ernst nehmen – etwas, das ja gerade die reformierte Theologie auch will. Hier treffen sich meines Erachtens christliche Theologie und der kulturwissenschaftliche Diskurs über das Anthropozän.
Ihnen geht es demnach um eine Art religiös informiertes Nachdenken über Mensch und Natur …
Wenn ich mit einem Umweltaktivisten spräche, würden wir vermutlich übereinkommen, dass es wichtig ist, sich für ökologische Gerechtigkeit einzusetzen und die Klimakrise einzudämmen. Aus meiner Sicht sollten wir aber das Bewahren der Natur nicht nur als etwas Technologisches denken, das nur politisch zu lösen wäre – auch wenn das natürlich zentral ist. Vielmehr brauchen wir auch einen geistlichen Zugang: Ich meine, dass wir das Christentum als Ressource sehen können, um unsere Sensibilität für die Welt zu steigern und uns etwas mehr aus dem Zentrum zu nehmen – verbunden mit einem Einsatz dafür, das Leben für alles Lebendige zu verbessern.
Spielt Ihre eigene Gläubigkeit eine Rolle bei Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?
Ja, aus meiner Sicht kann Glaube auch zum Ausdruck kommen, indem ich eigene Glaubensauffassungen infrage stelle oder traditionelle Glaubensinhalte in Zweifel ziehe. Andererseits können traditionelle Glaubensinhalte auch überraschend aktuell sein, und ich kann diese als eine Ressource entdecken – etwa für ökologisches Nachdenken. Für mich passt das zusammen – Glaube und akademische Reflexion.
Interview: Constanze Böttcher
Dieser Text ist zuerst erschienen in der Ausgabe 2022/23 des Forschungsmagazins EINBLICKE.