Ab Sonnenaufgang mit der Spitzhacke Schicht um Schicht Teile einer antiken Stadt freilegen, mittags im Jordan baden, nachmittags im Kibbuz Keramik „lesen”: Was derzeit undenkbar wäre, erlebten 17 Oldenburger Studierende im Sommer bei Israels größter archäologischer Grabung – in einem besonderen Lehrmodul unter Leitung von Hochschullehrer Benedikt Hensel.
Wenn Maryam Matta und ihre Kommilitonin Sophie Dierks im gerade angelaufenen Wintersemester auf die vorlesungsfreie Zeit zurückblicken, dürften sie die aktuellen Fernsehbilder von Israel im Kriegszustand wohl schwerlich mit ihren erst wenige Wochen alten Erinnerungen übereinbringen. Maryam und Sophie sind zwei von 17 Studierenden, die im August an der Summer School „Biblische Archäologie und Landeskunde“ im Norden Israels teilgenommen haben. Dort beteiligten sie sich gemeinsam mit Freiwilligen aus Israel, Frankreich, Spanien, Polen, Kanada oder den USA an der derzeit größten archäologischen Grabung des Landes in Hazor. Hinzu kamen Exkursionen sowie Begegnungen mit ranghohen Persönlichkeiten Israels aus verschiedenen Religionen.
Nach dem prägenden Erlebnis der Zeit in Israel gefragt, kommt Maryam – im Kontrast zum aktuellen Geschehen – ein eher kontemplativer Moment in den Sinn: ihr letzter Einsatz an der Grabungsstätte, ausnahmsweise bis in die Abendstunden. An jenem Tag entstanden abschließende Fotos und Zeichnungen der zuvor freigelegten Gebäudestrukturen, und die 22-Jährige war dabei, als die Sonne über dem antiken Siedlungshügel unterging und „die Grabungssaison sich ihrem Ende zuneigte“.
Drei Wochen zuvor war die insgesamt 20-köpfige Gruppe aus Oldenburg angereist. Prof. Dr. Benedikt Hensel, Hochschullehrer für Altes Testament am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik und Ko-Direktor der Grabung „The Selz Foundation Hazor Excavations in Memory of Yigael Yadin“, erwartete die Studierenden bereits, als sie im unweit gelegenen Kibbuz Kfar Blum Quartier bezogen. „Die Ausstattung war zwar sehr einfach, aber das wurde durch das Ambiente, die Menschen aus verschiedenen Kulturen und das überragende Essen – für mich eine komplett neue Küche – mehr als wettgemacht“, schwärmt Sophie.
Ab da hieß es Aufstehen im Morgengrauen, Arbeitsbeginn um 5 Uhr, um ab der ärgsten Mittagshitze die Spitzhacke wieder beiseitelegen zu können. Sophie wurde dem Areal „M69“ in der einstigen Oberstadt Hazors zugeteilt, vor allem charakterisiert durch eine bereits ausgegrabene 3.000 Jahre alte Stadtmauer, und Maryam gehörte dem Team im Areal „M4“ an. „Das entspricht in etwa dem Anbau des damaligen Palastes“, erzählt sie.
„Hazor war in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus die bedeutendste und größte Stadt der südlichen Levante“, erläutert Hensel, der neben Theologie selbst auch Archäologie studiert hat. „Über Hazor lief damals ein erheblicher Teil des Handels und Kulturtransfers in diese und aus dieser Region.“ So habe es im Rang der ältesten und größten Städte auch Mesopotamiens oder der nördlichen Levante gestanden, etwa Ur, Ebla oder Ugarit. Mit 80 Hektar sei das Gelände so groß, dass bislang allenfalls „etwas Punktuelles“ zutage gefördert worden sei. Nach Zerstörung im 13. vorchristlichen Jahrhundert war Hazor vor gut 3.000 Jahren erneut besiedelt worden – „wir haben vor allem in Arealen gegraben, die in diese Zeit weisen“, so Hensel.
Maryams Aufgabe dabei war es, „mit der Spitzhacke möglichst tief zu graben“, sagt sie, „große Steine abzutransportieren und dabei den Boden möglichst eben zu halten“. Auch für das Team um Sophie galt es, Schicht um Schicht abzutragen, um von den eisenzeitlichen Funden des wiederaufgebauten Hazor allmählich zur vorangegangenen Bronzezeit zu gelangen. Denn, so Hensel, idealtypisch seien Siedlungshügel „wie eine gut geschichtete Torte“ aufgebaut, in der sich kontrolliert zentimeterweise nach unten graben lasse, um so immer tiefer in die Vergangenheit vorzudringen. „Das war mit viel Schweiß und Muskelkater verbunden“, erzählt die 23-jährige Sophie, „doch ich empfand diese drei Wochen als schönen Kontrast zum sonst eher bewegungsarmen Studium am Schreibtisch.“
Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihr wie auch Maryam die „Bucket Chain“, eine Eimerkette, mittels der die Teams jeweils mehrmals am Tag das abgetragene Erdreich abtransportierten. „Wir haben die Eimer geworfen statt sie weiterzureichen, da das Kraft und Zeit spart“, erläutert Maryam. Allerdings hätten unter anderem die Oldenburger Studierenden die Eimer gern weiter befüllt als vorgesehen, um die Arbeit noch effizienter zu gestalten. „Angesichts dieser Arbeitsmentalität und -kraft war dann bald von ‚German Power‘ die Rede“, erzählt sie schmunzelnd.
Als spannendsten Fund in „ihrem“ Areal beschreibt Sophie eine Mauer neuer Datierung sowie Überreste eines Ofens („Tabun“) neben denjenigen eines einstigen Wohnhauses. Zudem hätten sie eine relativ große Ansammlung an Keramik gefunden, darunter eine fast komplett erhaltene Vase. Maryam fand es spannend, „wie widersprüchlich manche Funde auf den ersten Blick waren und wie schwierig die Datierung“. Funde importierter Keramik hätten die weite Vernetzung des damaligen Handels schon in biblischen Zeiten etwa mit Phönizien und – auf dem Gebiet des heutigen Syrien – Arams illustriert, ebenso die Rolle damaliger Großmächte wie Ägypten oder Neu-Assyrischem Reich.
„Archäologie macht Geschichte greifbar, und sie macht die biblischen Geschichten nachvollziehbar, die an die damalige Lebenswelt anknüpften. Das fasziniert mich“, sagt Hensel. Schließlich seien biblische Geschichten oft „keine Historie, sondern Glaubens- und Erfahrungsgeschichten im Gewand von geschichtlichen Ereignissen. Trotzdem, wenn die Geschichten damals erzählt werden sollten, mussten sie den damaligen Hörern und Leserinnen auch plausibel erscheinen!“ An Details – etwa: wie lebten Menschen, wie reisten sie, was beschäftigte sie im Alltag? – entscheide sich die Bedeutung und auch die Theologie dieser Texte. „Daher schätze ich die Archäologie der Südlevante so und finde sie eine kaum zu missende Perspektive fürs Studium des Alten wie des Neuen Testaments.“
Gemeinsam mit Grabungsdirektor Dr. Igor Kreimerman von der Hebräischen Universität Jerusalem plant Hensel nun etwa eine internationale Konferenz im Herbst 2024 in Oldenburg – sowie mindestens bis 2028 jährliche weitere Summer Schools für Studierende mit Teilnahme an den Ausgrabungen in Hazor. Indem dieses Lehrmodul das Heranführen an wissenschaftliche und archäologische Methoden verbinde mit israelischer Landeskunde, interkulturellen und interreligiösen Begegnungen, passe es gut zum Profil der Fakultät IV Human- und Gesellschaftswissenschaften mit ihrem Schwerpunkt interkultureller Studien, so Hensel. „Wir wollen nicht nur über andere Kulturen und Religionen sprechen, sondern mit ihnen und ihren Vertreterinnen und Vertretern in den Dialog treten.“
In Maryam und Sophie jedenfalls, die neben Evangelischer Theologie beide auch Geschichte studieren, sind Faszination und weitergehendes Interesse für Israel und seine Kultur einerseits sowie die Archäologie andererseits geweckt. So schwärmt Sophie: „Die Möglichkeit, gemeinsam die Geschichte Israels und des Judentums an den Schnittstellen kulturellen und religiösen Transfers zu studieren, war eine großartige Erfahrung für mich.“ Sie habe das Rekonstruieren der Vergangenheit und das dazugehörige „Lösen von Rätseln“ als sehr befriedigende Verbindung von Theorie und Praxis empfunden und die Exkursionen etwa nach Jerusalem als spirituell prägend.
Kurz vor ihrem Masterabschluss und Beginn des Referendariats sieht sich Sophie dank der Summer School in der Lage, „später authentischen Religionsunterricht zu geben und direkte, eigene Verknüpfungen zur Geschichte herzustellen“. Besonders in der heutigen Zeit sei auch hierzulande ein Grundverständnis im Umgang mit vielfältigen kulturellen und religiösen Hintergründen wichtig, betont sie. Auch Maryam werden die Themen und Inhalte der Summer School weiterhin begleiten, unter anderem als Studentische Hilfskraft im Fachbereich Altes Testament. Sie plant schon jetzt, im nächsten Sommer nochmals dabei zu sein – auf den Spuren der antiken Megastadt Hazor.