Vita

Prof. Dr. Dr. Joachim Willems beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Religion in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion. Der promovierte Theologe und Erziehungswissenschaftler hat seit 2016 die Professur für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik inne. In seiner religionswissenschaftlichen Dissertation beschäftigte er sich mit Lutheranern und lutherischen Gemeinden in Russland, in seiner erziehungswissenschaftlichen Dissertation mit der Einführung von Religionsunterricht in Russland. In seiner Forschung und Lehre legt er einen besonderen Schwerpunkt auf interreligiöse und differenzsensible Bildung.

Quellenhinweis

Sämtliche zitierten Predigten des Patriarchen Kirill finden sich in russischer Sprache auf der offiziellen Internetseite der Russischen Orthodoxen Kirche. Die Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Verfasser dieses Beitrags.

Eine deutschsprachige Übersetzung der Rede Putins anlässlich der Annexion ukrainischer Gebiete, aus der auch die hier verwendeten Zitate stammen, wurde auf der Internetseite der Russischen Botschaft in Berlin veröffentlicht.

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Prof. Dr. Dr. Joachim Willems

Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik

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Krieg in der Ukraine

  • Die orthodoxe Basilius-Kathedrale in Moskau.

    Die orthodoxe Basilius-Kathedrale, ein Wahrzeichen der russischen Hauptstadt Moskau: Nicht nur greift die staatliche russische Propaganda regelmäßig religiöse Motive auf, auch der Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche rechtfertigt den Krieg gegen die Ukraine und legitimiert in seinen Predigten die Art und Weise der Kriegsführung. Foto: Nicole Pankalla/Pixabay

  • Portrait von Gastbeitrag-Autor Prof. Dr. Dr. Joachim Willems.

    Joachim Willems ist ein profunder Kenner von Religion im postsowjetischen Russland. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Forschung und Lehre liegt auf interreligiöser Bildung. Foto: Daniel Schmidt/Universität Oldenburg

Wie die Russische Orthodoxe Kirche den Krieg legitimiert

Welche Rolle spielt die Russische Orthodoxe Kirche, um den Angriffskrieg in der Ukraine religiös zu legitimieren? Das analysiert der Oldenburger Theologe Joachim Willems aus theologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive – ein Gastbeitrag.

Welche Rolle spielt die Russische Orthodoxe Kirche, um den Angriffskrieg in der Ukraine religiös zu legitimieren? Das analysiert der Oldenburger Theologe Joachim Willems aus theologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive – ein Gastbeitrag.

Bald ist es ein Jahr her, dass Russland mit einem großflächigen Angriff auf die Ukraine den acht Jahre zuvor begonnenen Krieg massiv ausweitete. Am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik untersuche ich, welche Rolle die Russische Orthodoxe Kirche spielt, um den Krieg religiös zu legitimieren. Dies ist im Kontext der Frage relevant, warum Russlands Präsident Putin auch nach dem Februar 2022 und dem Beginn einer breiten Mobilisierung im September anscheinend von einem großen Teil der russischen Bevölkerung unterstützt wird. Sicherlich hängt dies immer noch mit der abschreckenden Erinnerung an die 1990er-Jahre zusammen, die im gesellschaftlichen Bewusstsein Russlands weithin mit Chaos, Kriminalität und Verelendung assoziiert werden. Vor diesem Hintergrund gilt Putin als der Überwinder dieser Krisen, der die wirtschaftliche Situation stabilisieren und Russland auf der weltpolitischen Bühne wieder Respekt verschaffen konnte. Dass es keine größeren Proteste gegen den Krieg gibt, liegt zudem zum Teil an der massiven Repression gegen alle, die öffentlich Kritik an der „militärischen Spezialoperation“ üben, wie sie offiziell genannt wird, und an dem Eindruck, dass solche Proteste angesichts einer staatlich streng kontrollierten Öffentlichkeit ohnehin nichts nützen würden. Nicht zu unterschätzen ist sicherlich auch die Wirkung der umfassenden staatlichen Propaganda, die den Krieg als vom Westen aufgezwungene Selbstverteidigung darstellt, bei der es um das Überleben des Landes gehe.

Russische Propaganda und das Christentum

Man mag es befremdlich finden, wenn im russischen Staatsfernsehen, dem Kanal Rossija 1, darüber diskutiert wird, ob der ukrainische Präsident Selenskyi, der „so viel Blut, so viel ukrainisches Blut“ vergossen habe, „der Antichrist“ sei – oder nur ein „kleines Dämönchen“, das dem Teufel diene.  Solche Bezugnahmen auf das Christentum, speziell auch auf die apokalyptische Tradition, sind allerdings keine Einzelfälle. Putin selbst greift religiöse Motive regelmäßig auf, so beispielsweise in seiner Rede aus Anlass der Annexion ukrainischer Gebiete am 30. September 2022:  In Putins Darstellung sind der eigentliche Kriegsgegner die USA und ihre „Vasallen“, und er erklärt deren „Russlandfeindlichkeit“ und die „Wut der westlichen Eliten auf Russland“ einerseits damit, dass sich Russland der kolonialen Plünderung widersetzt habe und weiterhin widersetze. Andererseits aber gehe es um Werte und Religion: Russland sei „ein starker zentralisierter Staat […],  der sich immer weiter entwickelte und auf dem Fundament großer moralischer Werte des Orthodoxen Christentums, des Judentums und des Islams sowie auf der für alle offenen russischen Kultur und russischen Schrift erstarkte“. Die „Diktatur der westlichen Eliten“ dagegen negiere „moralische Normen, Religion und Familie“, indem sie die aus Vater, Mutter und Kind(ern) bestehende Familie abschaffen wolle, schon Grundschulkindern „Perversionen“ eintrichtere und ihnen „gleich eine Geschlechtsangleichung anbietet“.

 

Patriarch Kirill und die Legitimation des Krieges als Verteidigung der orthodoxen Christen

Auf ähnliche Weise hat Kirill, Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche und damit Oberhaupt der mitgliederstärksten orthodoxen Kirche weltweit, schon Anfang März 2022 den Angriff auf die Ukraine gerechtfertigt. In einer Predigt sagte er am 6. März 2022, die USA und ihre westlichen Verbündeten würden die orthodoxen Christen in der Ukraine vor eine grausame Wahl stellen: diejenige zwischen dem Christentum einerseits – oder andererseits der „Welt des übermäßigen Konsums“, in der „die Sünde zum Standard des Lebens“ geworden sei. Dafür hätten „die, die Weltmacht beanspruchen“, einen „Loyalitätstest“ entwickelt: „Und wisst ihr, was das für ein Test ist? Der Test ist sehr einfach und gleichzeitig schrecklich – es ist die Gay-Parade.“ Wer sich weigere, eine „Gay-Parade“ durchzuführen, dessen „Widerstand“ werde „mit Gewalt unterdrückt“.

Soweit ähneln die Aussagen von Kirill denen seines Präsidenten Putin. Allerdings ist Kirill als Patriarch das Oberhaupt der größten Kirche in Russland, die beansprucht, letztlich für alle orthodoxen Bewohner des Landes (und der meisten anderen Nachfolgestaaten der sowjetischen Republiken) zu sprechen. So fügt er dem Thema eine spezifisch religiöse Note hinzu: Die Entscheidung im „Loyalitätstest“ ist für Kirill eine Entscheidung für oder gegen Gott, für oder gegen Christus. Denn letztlich habe der „Kampf […] keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung“. Es gehe nämlich „um die Erlösung des Menschen“ und um die Frage, wer im Letzten Gericht, vor „Gott dem Erlöser, der als Richter und Vergelter in die Welt kommen wird“, bestehen könne.

Apokalyptische Untertöne

Wenn sich Kirill auf das Letzte Gericht bezieht, ruft er einen größeren Zusammenhang von Vorstellungen auf, die mit dem Begriff der Apokalyptik bezeichnet werden: Im antiken Judentum und dann auch im Christentum gab es die Vorstellung einer Verfallsgeschichte, die in der jeweiligen Gegenwart in Verfolgungen und Bedrängnis der Gläubigen münden würde. In dieser Situation wird ein radikaler Umschwung erwartet, bei dem durch himmlisches Eingreifen und ein göttliches Gericht die Welt, wie wir sie kennen, an ihr Ende komme. Dabei spielt eine Retter-Gestalt, der Messias (vom hebräischen Wort Maschiach, „der Gesalbte“), eine zentrale Rolle; im Christentum ist dies der wiederkehrende Jesus Christus, wobei Christos die griechische Übersetzung des hebräischen Maschiach ist. Für die Mehrzahl der Menschen eine Katastrophe, bedeutet das (Wieder-)Kommen des Messias für die wahren Gläubigen – die Auserwählten – Errettung und Eingang in einen paradiesischen Zustand. Das letzte Buch der christlichen Bibel, die Johannes-Apokalypse, endet entsprechend mit der Vision des Himmlischen Jerusalem.

Zuweilen spielt in apokalyptischen Vorstellungen auch ein Gegenspieler des Messias eine Rolle, der Satan oder der Antichrist, der – wie erwähnt – von Zeit zu Zeit in politischen Talkshows des russischen Staatsfernsehens auftaucht. Der Gegenspieler hat seinerseits wieder einen Gegenspieler: Im Neuen Testament, im Zweiten Brief an die Thessalonicher, wird von einem katechon berichtet, von dem also, was den endzeitlichen Gegenspieler Christi, des Messias, noch „aufhält“ (2 Thess 2,6f.). Der rechtsextreme Ideologe Alexander Dugin hat den Begriff des katechon, in der Tradition von Carl Schmitt stehend, im politischen Diskurs Russlands popularisiert. Über die gleichnamige russische „Denkfabrik“ Katehon und ihre Internetseite wird Dugins geopolitische Ideologie auch in westeuropäischen Sprachen an ein westliches Publikum adressiert.

Patriarch Kirill fragt in seiner Predigt vom 7. April 2022: „Aber warum erheben sich die äußeren Kräfte auf der Russischen Erde? Warum versuchen sie, sie zu zerstören, zu spalten, Bruder gegen Bruder aufzustacheln?“ Mit der „Russischen Erde“ (im russischen Original ebenso wie in der deutschen Übersetzung ist das Adjektiv unüblicherweise großgeschrieben) ist im Kontext vorrangig die Ukraine gemeint. Kirill bezieht das Adjektiv auf den historischen Begriff der „Rus’“, der auch in seinem Titel als „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus’“ vorkommt. Mit der Verwendung des Begriffs „Rus’“ formulieren Kirill und ähnlich auch Putin einen kirchlichen beziehungsweise politischen Anspruch auf einen Herrschaftsbereich, der weit über das heutige Russland hinausreicht.

In Kirills Antwort auf die beiden Fragen seiner Predigt bezieht er sich dann offensichtlich auf den erwähnten Zweiten Thessalonicher-Brief: „In der Schrift wird eine Kraft erwähnt, die das Kommen des Antichristen in die Welt aufhält. Der Apostel sagt nicht, was das für eine Kraft ist […].“ Für Kirill ist aber klar, dass es sich um die orthodoxe Kirche und das orthodoxe Volk handele. Deshalb seien auf sie „heute alle scharf vergifteten Pfeile derer gerichtet, die danach streben, die Kirche zu spalten, die Kirche zu kompromittieren, die Kirche dem Volk zu entreißen“. In der Vorstellungswelt des Patriarchen sind auch diese Kirchenfeinde natürlich Akteure, die letztlich von den USA gesteuert würden, vorrangig die ukrainische Staatsführung. Aber auch Bartolomaios, der Patriarch von Konstantinopel, ist im Blick. Bartolomaios, das Ehrenoberhaupt aller orthodoxer Kirchen, hat durch sein Engagement in der ukrainischen Kirchenpolitik 2018/19 den Zorn der Russischen Orthodoxen Kirche auf sich gezogen.

Apokalyptik und Politik

Die antiken Verfasser apokalyptischer Schriften waren Angehörige marginalisierter und verfolgter Gruppen. Indem sie ihre Gegenwart als zeitlich befristete Bewährungsprüfung verstanden, in der sich ihr weiteres Schicksal entscheide, konnten sie aus der apokalyptischen Predigt Stärkung und Trost ziehen. Obwohl Oberhaupt der weltweit größten orthodoxen Kirche, die im flächenmäßig größten Land der Erde eine Stellung wie eine Staatskirche hat, inszeniert Patriarch Kirill sich und seine Kirche auf ähnliche Weise als vermeintlich marginalisiert und unterdrückt: in der Ukraine verfolgt, von fast übermächtigen satanischen westlichen Mächten angegriffen wie alle ‚wahren‘ Christen (und ebenso die Angehörigen anderer ‚traditioneller‘ Religionen). Immer wieder betont Kirill, dass er und seine Kirche, dass Präsident Putin und ganz Russland auf der Seite der Wahrheit, der Moral und schlussendlich auf der Seite Gottes stünden. Russland sei die „Insel der Freiheit in dieser stürmischen Welt“ (Predigt vom 6. September 2022), „ein friedliebendes Land und ein sehr friedliebendes, langmütiges Volk“, ohne jeden „Wunsch, Krieg zu führen oder etwas zu tun, was anderen Schaden zufügen könnte“ (Predigt vom 3. April 2022).

Auf diese Weise bietet der Patriarch der russischen Bevölkerung im Allgemeinen und dem Militär im Besonderen religiöse Deutungen an, die dem Jahrhunderte alten Glauben der Russen entsprechen sollen: Sie kämpften auf der Seite der Guten einen gerechten Kampf, ihr Tod sei ein Opfer fürs Vaterland, durch das sie die Vergebung aller ihrer Sünden erreichten (Predigt vom 25. September 2022), um so ins Paradies eingehen zu können.

Auf diese Weise legitimiert der Patriarch den Krieg und die Art und Weise der Kriegsführung. Denn im nach seiner Lesart endzeitlichen Kampf mit dem Antichristen und mit satanischen Mächten könne es keine Verhandlungen und keine Gnade geben. Gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass Russland keinerlei Eskalation zu fürchten brauche – komme doch für die wahren Gläubigen nach dem Weltuntergang das Paradies.

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