• Der Oldenburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Till-Sebastian Idel in einem Oldenburger Schulfoyer mit Schüler*innen im Hintergrund.

    Er hat mehr Schulen von innen gesehen als die meisten Menschen und forscht genau dort, wo Neues entwickelt, erprobt, gelebt wird: Schulpädagoge Till-Sebastian Idel, hier im Foyer der Integrierten Gesamtschule Flötenteich in Oldenburg. Universität Oldenburg / Mohssen Assanimoghaddam

  • Ein Schulkind trägt Farben aus einem Tuschkasten auf Papier auf.

    Freude am Lernen ohne Zeit- und Notendruck bescheinigen Eltern den Primus-Schulen und betonen die Chancen langfristiger Beziehungen – ob zu anderen Kindern oder Lehrkräften. Universität Oldenburg / Mohssen Assanimoghaddam

  • Ein Kind lernt im Schulflur an einem Tablet.

    Individualisiertes Lernen umfasst durchaus auch unterschiedliche Inhalte und Ziele beim selben Lerngegenstand. So können alle ihr Wissen beliebig ausdifferenzieren - im eigenen Tempo und auf dem jeweiligen Niveau. Universität Oldenburg / Mohssen Assanimoghaddam

  • Die Silhouetten von Jugendlichen im Klassenzimmer - ein Schüler meldet sich.

    An den Primus-Schulen erreichen viele Jugendliche einen besseren Abschluss, als es die Empfehlung nach der Grundschule erwarten lässt. So qualifizierten sich 48 Prozent für die gymnasiale Oberstufe – und nicht nur die erwartbaren neun Prozent. Universität Oldenburg / Mohssen Assanimoghaddam

  • Kolorierte Maisstärke hüllt den Hof der Primus-Schule Minden beim feierlichen Schuljahresabschluss 2023 in bunten Farbenstaub.

    Seit 2013 läuft der Schulversuch PRIMUS. Dessen zehnjähriges Bestehen mit den ersten Jugendlichen, die diesen von ihrer Einschulung bis zur mittleren Reife durchlaufen hatten, wurde im vergangenen Sommer besonders gefeiert. Patrick Meinhardt / Primus-Schule Minden

Schule neu gedacht

Schule ist statisch? Das sehen Erziehungswissenschaftler Till-Sebastian Idel und sein Team anders. So erforschen sie seit Jahren etwa Langform-Schulen ohne den Übergang zwischen Primar- und Sekundarstufe. Für Deutschland wäre es ein neuer Schultyp.

Schule ist statisch? Verändert sich kaum? Das sehen Erziehungswissenschaftler Till-Sebastian Idel und sein Team anders. So erforschen sie seit Jahren etwa Langform-Schulen ohne den Übergang zwischen Primar- und Sekundarstufe. Für Deutschland wäre es ein neuer Schultyp.

Rot, blau, orange, grün, rosa. Kolorierte Maisstärke, wie sie auch beim indischen Frühlingsfest „Holi“ verwendet wird, hüllt im ostwestfälischen Minden den Schulhof, Schüler*innen, Eltern und das Kollegium der Primus-Schule in eine Wolke kunterbunten Farbenstaubs. „Ein Hoch auf uns“, schallt es dabei zum Ferienbeginn aus Lautsprechern. Eine Schule feiert ihren zehnten Geburtstag, feiert sich selbst. Vor allem aber feiert sie die  jungen Menschen, die als Allererste einen ambitionierten Schulversuch von ihrer Einschulung im Jahr 2013 bis zum Ende der zehnten Klasse durchlaufen und nun ihren mittleren Abschluss in der Tasche haben. PRIMUS – das Akronym steht für die Integration von Primar- und Sekundarstufe, also „eine Schule aus einem Guss“, wie es der Oldenburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Till-Sebastian Idel beschreibt, der den nordrhein-westfälischen Schulversuch an insgesamt fünf Standorten seit Beginn wissenschaftlich begleitet.

Erprobt wird hier seit 2013 „nichts weniger als ein neuer Schultyp“, wie Idel und sein Wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Sven Pauling vom Institut für Pädagogik der Universität in einem Fachaufsatz formulierten. Dabei, so Idel, gebe es eine gesellschaftliche Debatte, der zufolge Schule als eher unbeweglich und statisch wahrgenommen wird. Sie steht im Kontrast zu seiner Perspektive: „Wir richten den Fokus auf Schulen, die sich selbst als extrem veränderungsfähig begreifen. Und das ist das Spannende – zu sehen: Schule verändert sich vielleicht doch.“

Wie im Projekt PRIMUS. Zu den Zielen des Schulversuchs gehört es, Bildungsbiografien ohne äußere Brüche zu ermöglichen – also ohne einen Schulwechsel nach der vierten Klasse – und zwar in pädagogisch innovativen, leistungsfähigen und zugleich inklusiven und bildungsgerechten Reformschulen. Wie die Schule der Zukunft aussehen mag? „Die Idee einer übergangslosen Schule hat aus unserer Perspektive enormes Zukunftspotenzial“, betont Idel, der in Oldenburg dem Arbeitsbereich Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik vorsteht und die Primus-Begleitforschung gemeinsam mit seiner Münsteraner Fachkollegin Prof. Dr. Christina Huf leitet.

Mit seinem Team forscht Idel zu Schule und Schulkultur, Unterricht, pädagogischer Professionalität sowie deren jeweiligem Wandel – da ergebe sich quasi automatisch eine „Weitwinkel-Perspektive“. Sie ist durchaus hilfreich beim Analysieren und Begleiten des Schulversuchs, dessen Elemente gleich mehrere Punkte einer aktuellen schulpädagogischen Reformagenda berühren: einen Unterricht für alle, Stichwort Inklusion; die Chancen, die jahrgangs- und sogar stufenübergreifendes Lernen den Schüler*innen bietet; und das Zusammenspiel verschiedener Lehrämter und anderer Professionen in einer Ganztagsschule, einer Schule, die mehr bietet als „nur“ Unterricht. Noch läuft die Begleitforschung, aber bisherige Gruppendiskussionen und Interviews mit Kindern, Lehrkräften, Eltern und Schulleitungen sowie eine Beobachtung des Schulalltags liefern erste Erkenntnisse.

Es ist eine vornehmlich qualitative Forschung, die Idel betreibt. Qualitativ, das heißt, es geht nicht um eine möglichst breite Datenbasis wie für PISA, IGLU oder andere standardisierte Studien. Vielmehr geht es um konkrete Einblicke: „Wir interessieren uns dafür, wie etwa Mitglieder eines Kollegiums gemeinsam über die Entwicklung ihrer Schule nachdenken, in entsprechenden Gremien und Arbeitsgruppen, wo auch immer. Welche Probleme identifizieren sie, und wie reden sie darüber? Welche Lösungen finden sie, und wie entwickeln sie diese weiter?“, so Idel. Diese Lösungen fallen an den fünf Primus-Standorten durchaus unterschiedlich aus. „Wir schauen zu, sind dabei und führen in bestimmten Abständen gezielt Interviews mit allen Schul-Akteuren.“ Ergänzend hinzu kommen teils auch quantitative Daten, Zahlenmaterial, das sich statistisch auswerten lässt.

Diese Zahlen zeigen zum Beispiel, dass der Verzicht auf einen Schulwechsel – eines der zentralen Profilmerkmale der Primus-Schulen – messbare Auswirkungen hat. Ohnehin, sagt Idel, sei aus der Forschung bekannt, „dass dieser Übergang ein neuralgischer Punkt ist, an dem Benachteiligungen und Ungleichheit im Bildungssystem entstehen“. Das habe zum Beispiel mit einer Art „Selbstselektion“ von Eltern zu tun, die vor dem Anstreben eines höheren Abschlusses als ihres eigenen für ihr Kind eher zurückschreckten. Aufgrund ähnlicher Überlegungen fielen teils auch die Empfehlungen der Lehrkräfte oft zurückhaltend aus. „Und bei aller beschworenen Durchlässigkeit des allgemeinbildenden Schulsystems glückt danach doch selten ein ‚Aufstieg‘ an die nächsthöhere Schulform“, sagt Idel.

Wie ein Blick auf die Primus-Schulen nahelegt, gelingt es abseits des üblichen mehrgliedrigen Schulsystems eher, sich von Schulempfehlungen zu emanzipieren. Da drei der fünf Primus-Schulen in den Anfangsjahren Kinder sowohl in die erste als auch in die fünfte Klasse einschulten, konnten die Forschenden später die Schulwahlempfehlungen und -abschlüsse dieser Quereinsteigenden zueinander ins Verhältnis setzen. Die Ergebnisse: Von den insgesamt 193 Schüler*innen des Abschlussjahrgangs 2020 hatten im Jahr 2014 ihre jeweilige Grundschule lediglich 9 Prozent mit einer Gymnasialempfehlung verlassen. Weitere
49 Prozent kamen mit einer Realschul-, 31 Prozent mit einer Hauptschulempfehlung an eine Primus-Schule. Allerdings erzielten sie, wie es im Bericht der Forschenden ans Schulministerium heißt, „tendenziell den nächsthöheren Bildungsabschluss“.

„Damit ich eine gute Zukunft habe, muss ich auch gut lernen“

So erwarben 26 Prozent einen Hauptschulabschluss – darunter auch Jugendliche mit besonderem Förderbedarf, die teils ganz ohne Abschlussempfehlung in die fünfte Klasse versetzt worden waren. 21 Prozent erlangten einen mittleren Schulabschluss, und ganze 48 Prozent erhielten die Zugangsberechtigung zur gymnasialen Oberstufe. Mehr als fünf Mal so viele Absolvent*innen wie nach den Empfehlungen erwartbar verließen die Primus-Schulen also mit einem qualifizierten mittleren Abschluss. Dabei, so betont Idel, handelt es sich um zentrale Prüfungen. Und genauso wie in landesweiten Erhebungen der Lernstände in den Jahrgängen 3 und 8 hätten Primus-Schulen im Vergleich mit anderen Schulen ähnlicher Schülerkomposition hier „sehr gut abgeschnitten“.

Derweil bescheinigten Eltern den Primus-Schulen, „Freude am Lernen ohne Zeit- und Notendruck“ erfahrbar zu machen und – dank der Langform – langfristige Beziehungen zu ermöglichen – ob zu anderen Kindern oder zu Lehrkräften. Zugleich ergaben qualitative Interviews mit mehr als hundert Schüler*innen unterschiedlicher Primus-Schulen, dass sie beim Lernen vor allem danach streben, ihre eigene Leistungsfähigkeit zu optimieren – abseits von Noten oder dem Hinarbeiten auf eine bestimmten Schulempfehlung. Ihrem eigenen Lernen und Lernprozess verleihen viele Kinder und Jugendliche demnach ausdrücklich mit Bezug auf ihre Zukunftsperspektive einen Sinn: „Die Zukunft steht noch vor mir, ich habe noch alles zu erleben, und damit ich eine gute Zukunft habe, muss ich auch gut lernen“, so ein Schüler im Interview. Den weiteren Bildungsweg von Primus-Absolvent*innen betrachten die Forschenden in einer weiteren, noch laufenden Studie.

Szenenwechsel: „Money, Money, Money…“ – Gesang der schwedischen Popband ABBA ertönt zum Auftakt einer Englischstunde im Klassenzimmer. In den Tischreihen Jugendliche der achten oder neunten Klasse. Der Lehrer ruft zum Brainstorming auf, um den vorhandenen Wortschatz rund ums Thema Geld zu ermitteln. Staccatoartig nennen die Schüler*innen auf sein Handzeichen hin englischsprachige Begriffe – bis Erziehungswissenschaftler Idel an seinem Büro-Rechner auf „Pause“ klickt. Es handelt sich um ein Video einer Unterrichtssituation, wie auch er und sein Team es für ihre Forschung aufnehmen – stets wartend „auf die Situation, die uns reinzieht, wo wir auf ‚Record‘ drücken“ –, und wie er es auch als Anschauungsmaterial in der Lehre verwendet. „Dies ist ein klassischer Einstieg in einen lehrergelenkten Unterricht“, sagt Idel, „ein Klassengespräch, das der Lehrer strukturiert und in dem er Aufgaben und Rederecht verteilt.“

Diesem Beispiel von Frontalunterricht stellt Idel gern Aufnahmen aus einer jahrgangsgemischten Lerngruppe in Berlin gegenüber. Raumteilende Elemente statt akkurater Tischreihen. Im Raum verteilt Schüler*innen, die einzeln oder in Gruppen Aufgaben bearbeiten, sich umherbewegen, um sich auszutauschen, andere um Rat zu fragen oder sich in die am Flipchart der Lehrerin bildende Schlange einzureihen und ihre Fragen dort loszuwerden. „Typischer offener Unterricht“, sagt Idel, in dem sogenannten Lernbüro gebe es naturgemäß deutlich „mehr Gewusel“.

Es ist eine Form von Unterricht, wie es ihn auch an den Primus-Schulen gibt. Individualisiertes Lernen im eigenen Tempo, auf dem jeweiligen Niveau und, wie Idel betont, auch „mit unterschiedlichen Inhalten und Zielen beim selben Lerngegenstand“. Sogenannte Spiralcurricula strukturieren den Lernstoff und ermöglichen Lernenden an unterschiedlichen Stellen einer imaginären aufsteigenden „Spirale“ von Inhalten den Einstieg: So lässt sich ein Thema gleichzeitig mit Schüler*innen unterschiedlicher Lernstände und Jahrgänge behandeln, ohne dass es für die Älteren in einer Lerngruppe lediglich eine Wiederholung des Stoffs vom Vorjahr ist. Jede und jeder kann sein Wissen nach Wunsch und Können beliebig ausdifferenzieren. In diesem Unterricht fungieren Lehrerinnen und Lehrer vor allem als Lernbegleiterinnen und -begleiter, die gemeinsam mit den Schüler*innen deren Lernplan festlegen und regelmäßig individuelles Feedback geben.

„Erfolgreiche Konzepte lassen sich transferieren. Dabei ist jede Schule anders“

Ein solcher Unterricht fordert Schulen heraus, sich stetig weiterzuentwickeln – etwa die Primus-Schulen Minden oder Münster, wo die Lerngruppen bis zum Ende von Klasse 9 jeweils drei Jahrgänge umfassen. Dort beobachten die Forschenden, wie die Lehrkräfte den Schulversuch bestmöglich zu gestalten versuchen. Wie etwa in Stufe II, die Jahrgang 4 bis 6 vereint, Lehrkräfte mit eigentlich unterschiedlichem Berufsverständnis – nämlich der Primar- und Sekundarstufe – sich sozusagen zusammenraufen und Hand in Hand arbeiten. Wie sie dabei – abseits der klassischerweise nach Stufen getrennten Schulbücher – auch eigene Unterrichtsmaterialien entwickeln.

Oder wie etwa Lehrkräfte in Stufe III mit Jahrgang 7 bis 9 über die optimale Gestaltung der Lernzeit durchaus kontrovers diskutierten: So gingen die Meinungen auseinander, ob in der letzten Stufe vor dem Abschlussjahrgang in der täglichen individuellen Lernzeit weiterhin die Klassenleitung oder vielmehr wechselnde Fachlehrkräfte ansprechbar sein sollten. Vorrang für die engere pädagogische Beziehung oder die jeweilige Fach-Expertise? Am Ende entschied sich das Kollegium für ein Mischmodell mit Schwerpunkt bei den Fachlehrkräften.

Noch steht die Entscheidung aus, ob die Langformschulen über das Versuchsende 2027 hinaus erhalten bleiben und ob das Landesschulgesetz sie künftig auch anderswo ermöglicht. Aber schon jetzt könnten sie Impulse geben, andere Schulen inspirieren, so Idel. „Erfolgreiche Konzepte lassen sich transferieren – ob es nun um die Leistungsbeurteilung ohne Noten geht oder eine bestimmte Organisation des Fachunterrichts in ‚Lernbüros‘. Dabei ist jede konkrete Schule anders – die Probleme sind ein bisschen anders, die Akteure sind andere, der Sozialraum ist anders“, betont er. „Eine Musterlösung, die man durchpausen könnte, gibt es ohnehin nicht.“ So sei es mit der Zukunft der Schule wohl auch ein wenig wie mit den unterschiedlichen Farben bei der Feier auf dem Mindener Schulhof: Sie liege in der Vielfalt.

 

Der Artikel entstammt der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazis EINBLICKE; Autorin: Deike Stolz.

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