Absolute Fallzahlen und Inzidenz, Reproduktionszahl und exponentielles Wachstum – um die Corona-Infektionslage zu erfassen, braucht es ein mathematisches Grundverständnis. Fachdidaktikerin Astrid Fischer über eine Disziplin zwischen praktischem Nutzen und abstrakten Konzepten.
Die aktuelle Infektionslage in der Corona-Pandemie drückt sich in täglich neuem Zahlenmaterial und in mathematischen Begriffen aus. Welches Handwerkszeug brauchen wir alle – oder bräuchten wir –, um damit umgehen zu können?
Für einige dieser Konzepte muss man viele Grundlagen kennen. Um exponentielles Wachstum zu verstehen, also die Zunahme der Zunahme, muss man zum Beispiel wissen, was Multiplikation bedeutet. Das ist nicht so banal, wie es scheint. Man muss dazu auch verstehen, was Zahlen eigentlich sind. Es reicht nicht, die Zahlenreihe in der richtigen Reihenfolge aufsagen zu können, sondern es geht um die Vorstellung, was die Zahlen bedeuten: Wie funktionieren die grundlegenden Operationen und wie hängen sie zusammen? Sehr viele Erwachsene mussten in ihrer Schulzeit das Einmaleins noch schlicht auswendig lernen – heute steht das weniger im Fokus. Denn dass jemand das Einmaleins auswendig kennt, heißt leider nicht, dass er oder sie vollständig durchdringt, was Multiplizieren bedeutet. Weitergehende Werkzeuge im Umgang mit dem Zahlenmaterial der Pandemie sind dann Funktionen, deren Gleichungen zwar nicht in den Medien genannt, aber grafisch dargestellt werden. Das muss man deuten können. Die Zusammenhänge zwischen diesen verschiedenen Darstellungen und dem, was an Informationen darin steckt, sind ziemlich anspruchsvoll.
Demnach fehlt manchen ein mathematisches Grundverständnis. Woran liegt das?
Das hat viele Ursachen. In der Mathematik bauen die Lerninhalte stark aufeinander auf. Wenn man nur die Zahlenwörter kennt, aber kein Konzept von Zahlen und Mengen hat, nicht weiß, was die Grundoperationen bedeuten, dann kann man eben beispielsweise nicht verstehen, was Multiplizieren bedeutet und infolgedessen auch keine lineare Funktion verstehen. Die Dinge werden von Schuljahr zu Schuljahr wieder aufgenommen, alles baut aufeinander auf. Das ist in der Mathematik stark angelegt. Dabei werden die Inhalte immer abstrakter. Addieren ist einfacher als Multiplizieren, das auch erst im folgenden Schuljahr behandelt wird. Wenn das Addieren nicht verstanden ist, wird es problematisch.
So entstehen über die Schuljahre hinweg immer tiefere Verständnislücken?
Ja. Das führt dazu, dass man dieses Fach womöglich nicht mag. Diese Kinder und Jugendlichen stehen neuem Stoff hilflos gegenüber: Sie können diesen nicht verstehen, weil sie ihn nicht mit Bekanntem verknüpfen und dazu erweiterte Vorstellungen aufbauen können. Und darum können sie auch nicht kreativ damit umgehen. Das ist in geisteswissenschaftlichen Fächern anders. In der Mathematik ist die Geometrie ein Beispiel, das nicht auf Zahlenverständnis und Algebra aufbaut und manchmal Schülern die Chance bietet, wieder einzusteigen. In Grenzen gilt das auch für die Stochastik, die Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber da rechnet man wieder viel. So ist der Rückzug von dem Fach eine Hilfsstrategie: Wenn es „cool“ ist, Mathematik nicht zu können, muss man sich dem nicht stellen. Weil grundlegende Dinge nicht verstanden sind und man sich unsicher fühlt, zieht man sich zurück und macht dicht.
Lässt sich das beheben?
Den Anschluss wieder zu finden, ist sehr schwierig – und ein Dilemma des Mathematikunterrichts in den höheren Schuljahren. Es ist schwierig, wenn bei Zehntklässlern Grundlagen aus der fünften Klasse fehlen. Ich jedenfalls habe da noch keine Lösung gefunden. Denn es geht nicht einfach darum, Informationen zur Kenntnis zu nehmen, sondern es braucht die jahrelange Entwicklung, um sich an die zunehmend abstrakten Konzepte zu gewöhnen und sie zu verinnerlichen. Der Unterricht ist bewusst so angelegt, dass die Kinder und Jugendlichen meist erst im folgenden Schuljahr den nächsten Abstraktionsschritt leisten müssen.
Wie lassen sich denn Schulkinder für Mathematik begeistern, damit möglichst wenige auf dem Weg den Anschluss verlieren?
Wichtig ist, dass sich der Mathematikunterricht darauf konzentriert, dass die Schülerinnen und Schüler die Konzepte wirklich verstehen – und nicht nur vordergründig richtige Antworten geben. Um das Beispiel von vorher aufzunehmen: Es geht also weniger darum, das Einmaleins auswendig zu lernen, sondern um ein Verständnis von Zahlenräumen und Rechenoperationen. Unterricht, der immer wieder dazu anregt, Zusammenhänge gedanklich herzustellen und zu nutzen, fördert ein tieferes Verständnis, als wenn man einfach nur auswendig lernen lässt. Halbschriftliche Rechenverfahren, die mit Rechenschritten im Kopf immer wieder auch das eigene Denken betonen, sind da zum Beispiel gegenüber reinen Routineaufgaben wie dem schriftlichen Addieren im Vorteil. Es geht um verstehendes Lernen, und das gibt zugleich ein positives Verhältnis zum Fach: Wenn man versteht, hat man ein Stück Kontrolle und fühlt sich dem nicht ausgeliefert.
Also kommt mit dem Verstehen der Spaß am Fach von ganz alleine?
Schülerinnen und Schüler – im Grunde wir alle – brauchen interessante Aufgaben, bei denen es zu knobeln oder Probleme zu lösen gilt. Wo wir eigene Ideen einbringen und diese verfolgen und diskutieren können – wo es nicht nur um „richtig“ und „falsch“ geht. Das ist zwar natürlich auch wichtig, aber nicht allein das. Oft gibt es unterschiedliche Lösungswege, es muss nicht immer die Musterlösung sein. Das eigene Denken zu ermöglichen, das führt zum Kompetenzerlebnis. Wenn wir nur einfache Aufgaben stellen, damit die Schülerinnen und Schüler erleben „ich kann das“, wird es schnell langweilig. Vielmehr geht es darum, etwas Neues zu entdecken. Bei manchen Kindern und Jugendlichen ist die Begeisterung fürs Fach dann in der Tat ein „Selbstläufer“, aber es ist und bleibt auch anstrengend, sich mit Mathematik auseinanderzusetzen und den Umgang mit abstrakten Konzepten zu lernen. Manchem macht der Sportunterricht keinen Spaß, weil er dort die Anstrengung scheut – so ist es vermutlich auch bei der Mathematik.
Wie lassen sich denn einfache mathematische Zusammenhänge einer breiteren Bevölkerung nahebringen?
Bei manchen Zusammenhängen gelingt das noch eher. Wenn es um die Corona-Fallzahlen geht, kann auch jemand ohne tieferes Verständnis der Multiplikation einordnen, was es bedeutet, wenn die Kurve steiler oder flacher verläuft. Dass die Schaubilder etwas vereinfacht und die Funktionsgraphen dort nicht als solche gekennzeichnet werden, ist sicher gut, denn sonst würde mancher vielleicht nicht folgen. Schwieriger ist die Vorstellung, wie schnell die Zahlen explodieren können. Eine Verdopplung ist nur scheinbar wenig. Das stellt man spätestens fest, wenn man das bekannte Beispiel mit Reiskörnern auf einem Schachbrett nachvollzieht. Wenn man mit einem Reiskorn auf dem ersten Feld beginnt und die Anzahl jeweils auf dem folgenden Feld verdoppelt, landet man am Ende bei einer zwanzigstelligen Zahl! Wenn man ausschließlich additiv denkt, kann man eben in der Anfangszeit des Wachstums nicht einschätzen, wie gefährlich und möglicherweise explosiv dieses ist. So kam diese Erkenntnis im Hinblick auf das Corona-Infektionsgeschehen womöglich bei einigen Menschen verzögert und etwas überraschend.
Bietet die Pandemie für den Mathematikunterricht auch eine Chance, nämlich in der Vermittlung mathematischer Inhalte mit hohem Aktualitätsbezug und unbestreitbar hoher Relevanz? Ob man nun die Klasse ausrechnen lässt, an welchem Punkt das Gesundheitssystem überlastet oder wie wahrscheinlich ein Superspreading-Ereignis ist…
Die Pandemie bietet sicherlich Anlass dafür – und man sieht daran sehr gut, wie wichtig Mathematik für unsere moderne Gesellschaft ist. Mit dem Anspruch, dass Mathematik genau das erst zeigen soll, habe ich persönlich allerdings Schwierigkeiten. Beim Fach Deutsch höre ich nicht diese regelmäßige Forderung, dass der praktische Nutzen erkennbar sein muss. Da steht zum Beispiel das Interpretieren von Gedichten auch nicht in Frage. Dennoch gibt es diesen Anspruch an die Mathematik, der von vielen Lehrkräften geteilt wird. Auch Studierende haben manchmal die Vorstellung, sie müssten alles, was sie unterrichten, in einen realen Kontext einbetten. Doch bei Mathematik geht es auch um abstrakte Konzepte, sie ist eine Wissenschaft von Strukturen. Zwar ist es wichtig, dass reale Kontexte ihren Platz im Unterricht haben, aber sie gehören meines Erachtens nicht ins Zentrum von Mathematikunterricht.
Interview: Deike Stolz