Bekommen Jugendliche einen besseren Zugang zu Gedichten oder Romanen, wenn sie sich den Texten auch auf emotionaler Ebene nähern? Ein Team um den Literaturdidaktiker Jörn Brüggemann vergleicht zwei unterschiedliche Herangehensweisen.
Gespräche über literarische Texte sind ein zentraler Bestandteil des Deutschunterrichts. Wie sich ihre Vielschichtigkeit am besten vermitteln lässt, ist unter Fachleuten jedoch umstritten. Ein Forschungsteam um den Literaturdidaktiker Prof. Dr. Jörn Brüggemann von der Universität Oldenburg will dies nun in einer Studie mit rund 90 Schulklassen untersuchen. Das Projekt unter dem Titel „Die Bedeutung von Subjektivität und Emotionalität in Gesprächen über Literatur im Deutschunterricht“ (SEGEL) wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über 24 Monate mit knapp 300.000 Euro gefördert. An der Leitung des interdisziplinären Vorhabens sind neben Brüggemann der Literaturdidaktiker Prof. Dr. Volker Frederking von der Universität Erlangen-Nürnberg sowie die Bildungsforscher Prof. Dr. Benjamin Nagengast und Prof. Dr. Ulrich Trautwein von der Universität Tübingen beteiligt.
Ziel des Projekts ist es zu untersuchen, welchen Einfluss verschiedene Gesprächsformen auf die Textrezeption haben – etwa darauf, wie gut Schülerinnen und Schüler einen literarischen Text verstehen, wie sie ihn ästhetisch erleben und für wie bedeutsam sie ihn für sich persönlich halten. „In der Literaturdidaktik ist die Annahme verbreitet, dass Subjektivität und Emotionalität besonders wichtig dafür sind, dass Gespräche über Literatur gelingen“, erläutert Brüggemann. Diese Hypothese sei allerdings bislang kaum wissenschaftlich erforscht. Das Team will nun in einer Interventionsstudie mit mehr als 2.000 Schülerinnen und Schülern empirisch überprüfen, welchen Einfluss die Faktoren „Gesprächstyp“ und „Interaktionsform“ haben.
Was bedeutet ein Text für mich?
Die Forschenden unterscheiden zwischen zwei Gesprächstypen: Der eine beschränkt sich rein analytisch auf kognitive Aspekte, um etwa sprachliche Besonderheiten und deren Funktionen zu erfassen. Die zweite Form von Unterrichtsgesprächen regt zusätzlich zur Selbstreflexion an. Dabei denken die Schülerinnen und Schüler beispielsweise über die Emotionen nach, die ein literarischer Text in ihnen auslöst. Beim zweiten Faktor, der Interaktionsform, untersucht das Team lehrerzentrierte und schülerzentrierte Gesprächsformen.
An dem Experiment nehmen im kommenden Schuljahr Schülerinnen und Schüler aus rund 90 Klassen des 9. und 10. Jahrgangs aus 26 Gymnasien in Bayern und Niedersachsen teil. Gesprächsgegenstand sind verschiedene Gedichte und Prosatexte. Anschließend überprüfen die Forschenden das Textverständnis der Schülerinnen und Schüler mit speziellen Tests. Außerdem untersuchen sie die Effekte auf das ästhetische Erleben und die Motivation der Jugendlichen mit Fragebögen, die in früheren Drittmittelprojekten entwickelt, evaluiert und optimiert worden sind.
Mehr Empathie für literarische Figuren
„Durch die klare Trennung der beiden Faktoren ‚Gesprächstyp‘ und ‚Interaktionsform‘ wollen wir erstmals systematisch ermitteln, welche Rolle Subjektivität und Emotionalität in Gesprächen über Literatur spielen“, so Brüggemann. In einer Vorgängerstudie hatte das Team bereits empirische Hinweise dafür gefunden, dass sich Impulse zur subjektiven und emotionalen Aktivierung positiv auswirken: Die Schülerinnen und Schüler bringen dann beispielsweise mehr Empathie für die Figuren auf, empfinden den Text als bedeutungsvoller für sich selbst und nehmen die Unterrichtsgespräche als anregender wahr als sonstige Gespräche im Deutschunterricht.