Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet, am folgenden Tag trat es in Kraft. Wie ist es 75 Jahre später um die Menschenwürde bestellt, die gleich im ersten Artikel als Fundamentalnorm festgeschrieben ist? Ein Gastbeitrag des Oldenburger Politikwissenschaftlers Tonio Oeftering.
Heute feiern wir das 75-jährige Bestehen des Grundgesetzes. Dieses entstand nach dem Zweiten Weltkrieg und war der Versuch, nach den Schrecken des Nationalsozialismus die (west-)deutsche Demokratie auf einem festen Werteboden zu verankern. Als Fundamentalnorm ist die in Artikel 1, Absatz 1 niedergelegte Menschenwürde zu nennen. Dort heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Wie aber ist es um die Menschenwürde bestellt? Der Blick in aktuelle Nachrichten verheißt wenig Gutes: Wir haben Krieg in Europa, einen immer wieder aufflammenden Konflikt im Nahen Osten, und die Klimakrise ist keine ferne Zukunftserzählung mehr, sondern ihre Auswirkungen werden immer spürbarer – nicht nur in fernen Ländern, sondern auch hier bei uns. An all diesen Phänomenen lässt sich ablesen, wie gefährdet die Menschenwürde ist, wenn Krieg, Verfolgung, Tod, Armut und Flucht zu den existenziellen Erfahrungen unzähliger Menschen werden.
Aber was ist überhaupt unter dieser Menschenwürde zu verstehen, deren Bestand in so vielfältiger Weise prekär ist?
Mit Kant können wir sagen, die Würde des Menschen ist das, was den Menschen als einzigartiges, vernunftbegabtes Wesen ausmacht. Und, so Kant, Würde ist das, was über jeden Preis erhaben ist. Und in dem Moment, wo wir beginnen, Menschen nicht mehr in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen, sie nicht mehr als Selbstzweck anzunehmen, sondern nur noch als Mittel zum Zweck, beginnen wir schon, ihre Würde in Frage zu stellen.
Wenn wir einen Blick in das Grundgesetz werfen, dann lesen wir dementsprechend, die Würde des Menschen sei unantastbar. Aber ist das nicht eine kontrafaktische Erzählung? Werden wir nicht täglich Zeugen (hoffentlich nicht Betroffene) von Ausgrenzung und Beschämung, von Verletzungen der Würde?
Jedoch: Aus dem Postulat, die Würde sei unantastbar, ergibt sich eben zugleich der Auftrag, für Lebensverhältnisse zu sorgen, die eine Verletzung der Würde soweit möglich zu verhindern beziehungsweise vorhandene Verletzungen zu mildern. Das bedeutet, die Würde ist einerseits ein Wesensmerkmal eines jeden Menschen und zugleich ein Gestaltungsauftrag, den zu erfüllen vor allem die staatliche Gewalt verpflichtet ist.
Aber eben nicht nur. Denn auch wenn im Grundgesetz steht, dass dem Staat die Achtung und der Schutz der Menschenwürde in besonderer Weise obliegt, darf nicht vergessen werden, dass dieser alleine nicht in der Lage ist, eine menschenwürdige Gesellschaft zu gewährleisten. Seine Bemühungen müssen in eine Kultur der Menschenwürde eingebettet sein. Das heißt, auch die in einem Staat lebenden Menschen sind aufgerufen, sich für die Menschenwürde einzusetzen und für ihren Schutz einzutreten, sei es im privaten Umfeld, in der Schule, in der Öffentlichkeit oder auch im Berufsleben.
Dies gilt auch und insbesondere für Universitäten, die sich nicht nur der Wahrheitsfindung verschrieben haben, sondern sich auch als Orte des akademischen Austauschs, der Begegnung und der gemeinsamen Arbeit an einem menschenwürdigen Gemeinwesen verstehen.
Deswegen ist es gut und richtig, wenn beispielsweise Hochschulleitungen immer wieder politisch Stellung beziehen, etwa als Reaktion auf den aufbrechenden Antisemitismus nach den Terroranschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Aber auch hier gilt: Eine Kultur der Menschenwürde lässt sich nicht von oben verordnen. Alle anderen Universitätsangehörigen sind ebenfalls dazu aufgerufen, sich für eine menschenwürdige Universität einzusetzen.
Dies gilt auch und vielleicht auch in besonderer Weise für die unsere, die den Namen Carl von Ossietzkys trägt, der bekanntlich bereit war, für die Werte, die dann vor 75 Jahren Eingang in das Grundgesetz gefunden haben, sein Leben zu lassen.