• "Sett di daal" - setz' dich: Inschrift einer Sitzbank im ostfriesischen Leer. Foto: Tobias Albers-Heinemann / Pixybay

  • Sie befasst sich in ihrer Forschung und Lehre mit niederdeutscher Literatur in historischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive: Doreen Brandt. Foto: Daniel Schmidt / Universität Oldenburg

„Für viele selbstverständlich eine eigene Sprache”

„Niederdeutsch macht Schule” – unter dieser Überschrift treffen sich heute Fachleute aus Politik, Kultur und Bildungswesen an der Universität. Was ist Niederdeutsch, und wie hat es sich entwickelt? Ein Interview mit Germanistin Doreen Brandt.

„Niederdeutsch macht Schule” – unter dieser Überschrift treffen sich heute Fachleute aus Politik, Kultur und Bildungswesen an der Universität. Was ist Niederdeutsch, und wie hat es sich in den zurückliegenden Jahrhunderten entwickelt? Ein Interview mit Germanistin Doreen Brandt.

Niederdeutsch – was ist das eigentlich: ein Dialekt? Eine Sprache? Oder eine historische Form des Deutschen?

Alle drei Antwortmöglichkeiten sind richtig oder zumindest nicht falsch. Historisch gesehen ist das Niederdeutsche eine Variante des Deutschen, wie auch das Hochdeutsche. Aber während sich das Hochdeutsche im Laufe der Zeit als Standardsprache durchsetzte, sprachen und schrieben immer weniger Menschen Niederdeutsch – oder Plattdeutsch, wie das Neuniederdeutsche auch genannt wird. Ob es sich heute um einen Dialekt oder eine Sprache handelt, ist in den letzten Jahren viel diskutiert worden. Viele Niederdeutschsprechende sehen es ganz selbstverständlich als eigene Sprache an. Seit 1999 steht das Niederdeutsche außerdem unter dem Schutz der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Bedingung dafür war der eigensprachliche Status des Niederdeutschen.

Welche praktischen Auswirkungen hat die Aufnahme in die Charta?

Mit der Anerkennung der Charta verpflichten sich die norddeutschen Bundesländer, das Niederdeutsche zu fördern – zum Beispiel durch kulturelle Veranstaltungen oder durch die Einführung eines Schulfachs Niederdeutsch. Auch an der Uni Oldenburg lernen angehende Lehrkräfte, Niederdeutsch zu unterrichten.

Und Sie bringen ihnen Niederdeutsch bei?

Nein, ich spreche selbst kein Niederdeutsch. Die Sprachkurse leitet ein Kollege von mir. Ich verstehe Niederdeutsch aber sehr gut und gebe Seminare zur niederdeutschen Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart.

Das ist ein ziemlich großer Zeitraum. Aus welcher Zeit kommen die Quellen, mit denen Sie vor allem arbeiten?

Was die historischen Formen des Niederdeutschen angeht, beschäftige ich mich insbesondere mit der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts. Das ist auch der Zeitraum, in dem das Niederdeutsche am weitesten verbreitet war – nicht nur im norddeutschen Raum, sondern auch in Nord-, West- und Osteuropa. Das lag daran, dass das Niederdeutsche Sprache der Hansestädte war. Wo die Hanse Handelsniederlassungen und Handelspartner hatte, verbreitete sich auch das Niederdeutsche: Es wurde beispielsweise für die geschäftliche Korrespondenz verwendet.

Welche Literatur gibt es aus dieser Zeit?

Alles Mögliche! Neben der geschäftlichen Korrespondenz zum Beispiel auch Inschriften, Spruchsammlungen, Bibeln und Legenden, Ratgeber und Fachliteratur, Liederbücher, Erzählungen, Stadtrechte, Testamente, Chroniken … Der Literaturbegriff, den die Mediävistik für die Literatur des Mittelalters ansetzt, ist nämlich sehr weit. Dazu zählt viel mehr, als wir heute gemeinhin unter Literatur verstehen.

Und welche dieser Werke sind in der Forschung besonders relevant?

Unter anderem das Tierepos Reynke de Vos. Das ist eine Verserzählung, die im Tierreich spielt. Der schlaue und verschlagene Fuchs Reynke begegnet den anderen Tieren im Reich von König Nobel, dem Löwen, immer wieder mit Gewalt und Hinterlist. Dafür landet er zwar vor Gericht, aber durch seine Schläue gelingt es ihm immer wieder, der Bestrafung zu entgehen. Hinter dieser Geschichte verbirgt sich mehr, als man auf den ersten Blick vermutet. Es geht auch um verdeckte Kritik am Adel und an der Geistlichkeit.

Noch heute redet man ja vom schlauen Fuchs…

Ja, und das ist auch auf dieses Werk zurückzuführen. 1498 erschien in Lübeck eine Fassung auf Niederdeutsch, die im 16. Jahrhundert die Grundlage für viele andere Übersetzungen war, zum Beispiel ins Hochdeutsche oder Lateinische. Aus heutiger Sicht würde man von einem Bestseller sprechen, der über einen sehr langen Zeitraum präsent blieb. Selbst Goethe griff das Thema auf. Literaturgeschichtlich ist das Werk auch deswegen relevant, weil man lange davon ausging, dass es ein niederdeutsches Original sei – anders als viele andere mittelniederdeutsche Werke, bei denen es sich um Bearbeitungen aus anderen Sprachen handelt. Die Forschung des 19. Jahrhunderts konnte aber zeigen, dass die Lübecker Fassung auf eine niederländische Vorlage zurückgeht.

Wie kam es dazu, dass das Niederdeutsche später immer weniger gesprochen und geschrieben wurde?

Dafür spielte wohl unter anderem der allmähliche Niedergang der Hanse im 16. und 17. Jahrhundert eine Rolle. Damit verlor die Sprache ihre Stellung als überregionale Verkehrssprache. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts gingen die Städte im Norden nach und nach dazu über, das Hochdeutsche für ihre schriftliche Korrespondenz zu verwenden. Bei den fürstlichen Kanzleien hatte dieser Prozess sogar schon früher eingesetzt, das Hochdeutsche hatte mehr Prestige. So kam es dazu, dass das Niederdeutsche ab dem 17. Jahrhundert fast nur noch gesprochen, aber kaum mehr geschrieben wurde. Ab dem 19. Jahrhundert ging dann auch das gesprochene Niederdeutsch zurück. Zum Beispiel wurden Schülerinnen und Schüler dazu angehalten, im Unterricht Hochdeutsch zu sprechen.

Heute hingegen sollen sie wieder Niederdeutsch lernen.

Ja, das ist eine Maßnahme im Rahmen der Sprachencharta, um das Niederdeutsche zu fördern und zu erhalten. Denn es gibt immer weniger Menschen, die es sprechen können. Das Institut für niederdeutsche Sprache führt dazu regelmäßig Umfragen in den Bundesländern durch, in denen das Niederdeutsche verbreitet ist – also Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Bremen, Brandenburg sowie bestimmte Teile von Hessen, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. 2016 sagten nur etwa 16 Prozent der Befragten, dass sie sehr gut oder gut Plattdeutsch sprechen. 1984 hatten das noch 35 Prozent von sich gesagt.

Welche Tipps haben Sie für Interessierte, die die niederdeutsche Sprache kennenlernen wollen?

Ein guter Einstieg kann zweisprachige Literatur sein, zum Beispiel von Norbert Johannimloh, Bolko Bullerdiek und Waltrud Bruhn. Sie schrieben niederdeutsche Stücke, die sie selbst ins Hochdeutsche übersetzten. Dieses Format diente teils dazu, ein breiteres Publikum zu erreichen – zum Beispiel auch Personen, die Niederdeutsch nicht so gut verstehen. Oder man fängt mit Werken an, die man schon kennt. Zum Beispiel gibt es heute auch Asterix oder Harry Potter auf Niederdeutsch. Es gibt jedenfalls viele Zugänge zur niederdeutschen Literatur. Originär auf Plattdeutsch entstehen heute vor allem Kurzgeschichten und Lyrik. Insgesamt gibt es aber eine große Bandbreite, von Theater über Hörspiel und Film bis zum Poetry Slam. Unter den Autorinnen und Autoren gibt es ältere, die mit dem Niederdeutschen aufgewachsen sind – aber auch jüngere, die es teilweise erst neu gelernt haben.

Das Interview, geführt von Iria Sorge-Röder, erschien zuerst Ende August 2021 im Blog „Forschungsnotizen” des Transferprojekts „Innovatige Hochschule Jade-Oldenburg! (IHJO)”. Hier handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung.

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