Würden Menschen ehrlicher Steuern zahlen, wenn sie ihr Einkommen veröffentlichen müssten? Dieser Frage ging der Ökonom Johannes Lorenz nach. Ein Ergebnis: Maximale Transparenz bringt nicht zwingend die größten Steuereinnahmen.
Für viele Menschen in Deutschland dürfte es eine ungewohnte Vorstellung sein, dass ihre Steuerdaten öffentlich zugänglich sein könnten. Für Prof. Dr. Johannes Lorenz liefert diese Idee interessante Forschungsansätze: „Könnte eine solche Transparenz Steuerpflichtige dazu animieren, Steuern zu hinterziehen oder zu optimieren?“, lautet eine Frage des Juniorprofessors für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre am Department für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Seine Überlegung: Wenn jemand sieht, dass Bekannte nicht ehrlich bei der Steuererklärung sind, könnte dieses Verhalten abfärben.
Steuerhinterziehung ist ein großes Problem für Staat und Gesellschaft. 2019 ergab eine Schätzung der University of London, dass allein in Deutschland jährlich Steuern in Höhe von mehr als 125 Milliarden Euro hinterzogen werden. Dieses Geld fehlt dem Staat, um Aufgaben wie Bildung, Forschung oder Infrastruktur zu finanzieren. Lorenz will das Phänomen genauer untersuchen. In früheren Studien hat er sich damit befasst, wie sich gesellschaftliche Narrative auf das Steuervermeidungsverhalten auswirken, sowie mit dem „Wettlauf“ zwischen Steuergesetzgebung und Steuervermeidung. Lorenz ist Research Fellow im von der Universität Paderborn koordinierten Sonderforschungsbereich Accounting for Transparency, der die Auswirkungen von Steuer- und Transparenzregeln auf Wirtschaft und Gesellschaft erforscht. „Mich interessiert, wie sich die Besteuerung auf ökonomische Entscheidungen auswirkt. Besonders spannend finde ich, wie Transparenz bei der Einkommensteuer die Steuermoral und das Steueraufkommen beeinflusst“, so Lorenz.
Um das zu untersuchen, verwendet er gemeinsam mit zwei Kollegen von der Universität Passau ein „Small World“-Netzwerkmodell, also ein Modell, in dem Personen als Knotenpunkte eines Netzwerks dargestellt werden, die sich gegenseitig beeinflussen. Solche computergestützten Herangehensweisen werden unter anderem in den Wirtschaftswissenschaften gewählt, um in einem Planspiel mit vergleichsweise wenigen Annahmen strukturelle Zusammenhänge aufzudecken.
Beeinflusst Transparenz bei der Einkommensteuer die Steuermoral?
Das Modell der drei Forscher simuliert über einen Zeitraum von 40 Jahren ein fiktives, aus 1.000 Personen bestehendes Stadtviertel, in dem die Menschen gegenseitig ihr Verhalten beobachten. Dabei setzt das Team voraus, dass die Nachbarn etwa anhand der Größe des Hauses oder der Automarke das reale Einkommen eines Akteurs erkennen können. Ferner nehmen die Forscher eine Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent pro Jahr an, dass das Finanzamt einen Steuerpflichtigen prüft. Wird jemand entdeckt, der beispielsweise Spenden erfindet oder bei der Pendlerpauschale schummelt, muss er Strafe zahlen und bleibt in den folgenden vier Jahren notgedrungen ehrlich. Zu guter Letzt steht es den Akteuren offen, ihre Steuerlast legal zu optimieren. Dies bringt ihnen denselben finanziellen Vorteil wie Steuerhinterziehung, ist aber aufwendiger.
Die Forscher testeten drei Szenarien: Im ersten Szenario muss wie in Deutschland niemand seine Steuerdaten veröffentlichen. Im zweiten Szenario veröffentlicht das Finanzamt das zu versteuernde Einkommen. Dies ähnelt der Rechtslage in Norwegen und Schweden. Im dritten Szenario herrscht maximale Transparenz: Hier werden das Bruttoeinkommen, die Steuererklärung und das zu versteuernde Einkommen publiziert. Die Forscher gehen davon aus, dass Steuerzahlende als rationale Akteure nicht nur möglichst wenig Steuern zahlen wollen, sondern auch einen „sozialen Nutzen“ anstreben. Hierunter verstehen die Wissenschaftler die Neigung, sich ähnlich wie die Umgebung zu verhalten. „Wenn ich etwa sehe, dass mein freiberuflich tätiger Nachbar sich ein großes Eigenheim leisten kann, obwohl er laut den veröffentlichten Daten nur ein geringes Einkommen hat, will ich nicht der Dumme sein und versuche ebenfalls, meine Steuerzahlungen zu minimieren“, fasst Lorenz die Abwägung zusammen. Diese Hypothese basiert auf empirischen Studien, die zeigen, dass Gruppendruck bei Steuerhinterziehung ein starker Faktor ist.
Das zentrale Ergebnis der Simulation ist, dass nicht maximale, sondern teilweise Transparenz die größten Steuereinnahmen einbringt. Die Menschen im ersten Szenario wissen gar nicht, wie sich ihre Nachbarn verhalten; Steuerbetrug ist hier eine oft gewählte Strategie, da die Hinterziehung relativ selten entdeckt wird. Im zweiten Szenario erkennen Steuerpflichtige zwar, ob ihre Nachbarn weniger Steuern zahlen als man vermuten könnte; jedoch nicht, ob sie Steuern hinterziehen oder optimieren. Der „Herdentrieb“ begünstigt daher keine dieser Strategien, weshalb viele Menschen ehrlich ihre Steuern zahlen. Im dritten Szenario mit maximaler Transparenz ist klar, wer hinterzieht, wer optimiert und wer nicht optimiert. Hier entscheiden sich die meisten dafür, Steuern legal zu optimieren. Steuerhinterziehung ist dagegen unattraktiv, da entdeckte Betrüger abschreckend wirken.
„Die Studie legt nahe, dass aus Sicht des Staates eine Teilveröffentlichung zu bevorzugen ist, da hier die wenigsten Steuerausfälle entstehen“, fasst Lorenz zusammen. Er räumt jedoch ein, dass die Ergebnisse je nach Netzwerkgröße, Prüfwahrscheinlichkeit und Steuersatz variieren. Er will das Modell daher in künftigen Studien verfeinern, um den Effekt unterschiedlicher Grade von Steuertransparenz noch besser messen zu können. Die Ergebnisse der Simulationen sollen dann als Ausgangshypothese für empirische Studien dienen. „So können wir mit unserer Forschung zur Minderung des gesellschaftlichen Problems der Steuerhinterziehung beitragen.“