Predigt Nothwang

Predigt Nothwang

Universitätsprdigt von Prof. Dr. Hans Gerd Nothwang

St. Lamberti-Kirche Oldenburg
25. Mai 2014

Liebe Gemeinde,
als Pastor Hennings vor fast einem Jahr anfragte, ob ich bei den Universitätspredigten mitmachen würde, habe ich gezögert.

Ist Glauben etwas Akademisches? Was wurde erwartet, welche Aspekte könnte ich als Professor für Neurogenetik in eine Predigt einbringen? Könnte es um Hirnforschung und Religion, um die Freiheit des Christenmenschen im Lichte neuester neurowissenschaftlicher Erkenntnisse gehen?

Da muss ich Sie enttäuschen. Neurowissenschaftler können zwar manche menschliche Verhaltensweisen wie Empathie und ökonomisches Verhalten heute besser erklären, aber ich bezweifele grundsätzlich, dass die Themen Glaube und Gott jemals den privat-subjektiven Bereich verlassen und das Spekulative ablegen werden. Ich halte es da mit dem Kollegen Appelrath, der vor drei Monaten hier oben stand mit der Erkenntnis: ich glaube einfach - trotz der naturwissenschaftlichen Unhaltbarkeit vieler biblischer Texte. Ehrlicherweise muss ich aber für mich hinzufügen, dass ich öfters auch nur versuche zu glauben, weil mir der Glaube Geborgenheit gibt und das daraus resultierende Vertrauen mich in meiner Kindheit und Jugend so gut getragen hat. Und man soll ja Bewährtes nicht so leicht ablegen. In der Wissenschaft nennen wir das dann: Never change a winning protocol.

Die Bibel gibt mir allerdings für diese Geborgenheit, für dieses Vertrauen eine viel poetischere Sprache als die Wissenschaft: Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. So sagt es der 139. Psalm. So eine wunderschöne Metapher werde ich als Neurogenetiker leider nie schreiben können, auf so einen Satz verzichten möchte ich aber auch nicht.

Dass ich mich dann doch auf die Anfrage einließ, hat mit dem Predigttext zu tun, auf den ich dann gestoßen bin, mit der Verheißung: „Höret, so werdet ihr leben“. Zum einen lockt mich der dem Text innewohnende Kontrast zu unserer immer mehr auf materielle Werte, Konsum und Erfolg ausgerichteten Gesellschaft. Zum anderen lädt diese Verheißung auch ein zu einem Gespräch zwischen dem Bibeltext und meinem Forschungsgebiet, der Hörforschung. Somit würde sich auch das Universitäre in der Universitätspredigt abbilden lassen.

Hören wir zunächst noch einmal in den Predigttext hinein:
Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!
Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst!
Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!
Wozu zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist,
und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?
Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben.
Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir!
Höret, so werdet ihr leben!
Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben.

Angesprochen sind in diesem Text diejenigen, die sich ihres Hungers, ihres Durstes, ihrer Sehnsucht und ihrer Bedürftigkeit bewusst sind – und die es wagen, diesen Hunger, diesen Durst, diese Sehnsucht und diese Bedürftigkeit zum Thema zu machen. Dorothee Sölle hat einmal gesagt, dass alle, die glauben, ein wenig hinken, wie Jakob, nachdem er mit dem Engel gekämpft hat. Hier im Rahmen eines Gottesdienstes erwarten wir solche Adressaten, das deckt sich mit unseren Erwartungen an einen Bibeltext und eine Predigt. Ist Kirche doch in der Vorstellung vieler der Ort für die Schwachen und schöpft daraus ihre gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung. Wobei paradoxerweise dieses Eingeständnis, bedürftig und hinkend zu sein, in heutiger Zeit häufig Selbstbewusstsein und innere Stärke voraussetzt. Wer es tut, schwimmt gegen den Strom, wie wir gleich hören werden.

Denn kommen wir zum Alltag! Sind da nicht die Adressaten der allermeisten Ansprachen und Broschüren viel eher die in der Leistungsgesellschaft Erfolgreichen, die Gutverdienenden, die Gesunden? Besteht dort nicht eher die Verpflichtung, gut drauf zu sein und an der Selbstoptimierung zu arbeiten?

„Like it“-Abstimmungen in sozialen Netzwerken selbst für den privatesten Bereich, geschönte Facebook-Profile für den Personalchef,Topmodel-Shows und Fitnessstudios an jeder Straßenecke: das alles weist uns ständig darauf hin, dass wir bewertet werden, dass wir besser werden müssen, wenn wir mithalten wollen. Und gerade als Wissenschaftler ist mir diese Problematik sehr bewusst, da auch wir regelmäßig evaluiert werden und in einem internationalen Konkurrenzkampf um Veröffentlichungen, Drittmittel etc. stehen. Publish or perish, veröffentliche oder gehe unter, lautet im Englischen die pointierte Zusammenfassung des aktuellen Wissenschaftsbetriebs. Auch ich selbst bewerte jeden Tag andere und gebe Kommentare zu ihrer Leistungsfähigkeit ab und finde das auch gerecht und notwendig.

Kirchengemeinde und Alltag, das sind für mich daher in dieser Frage zwei Welten, und ich gebe zu, ich weiß keinen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma. In der Kirchengemeinde werde ich auf meine Bedürftigkeit angesprochen – aber in der Weise, dass sie notwendig zu meinem Leben gehört. In der Leistungsgesellschaft des Alltags gilt alles, was nach Bedürftigkeit aussieht, als zu überwindendes Defizit. Diese alltägliche Botschaft, dass wir weiter an unserer doch nie erreichbaren Vervollkommnung arbeiten müssen, setzt viele von uns ins Hamsterrad. Wir werden hyperaktiv und glauben, Multitasking sei eine erstrebenswerte Fähigkeit und nicht vielmehr ein Rückschritt ins Tierreich.

Dort ist es überlebensnotwendig, z.B. bei der Nahrungssuche immer das Umfeld im Blick zu behalten und sich nie auf etwas zu lange zu konzentrieren. Hyperaktivität bringt jedoch nichts Neues hervor, sondern reproduziert und beschleunigt nur das bereits Vorhandene.

Der hellsichtige Nietzsche hat das pointiert so formuliert: „Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik“. Die meisten wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen sowie originären Ideen aber verdanken sich kontemplativen Phasen. Hier in Oldenburg werden manche in diesem Zusammenhang an Karl Jaspers denken. Er litt zeitlebens an einer Lungenkrankheit und musste die meiste Zeit liegend auf seinem Sofa verbringen. Durch diese erzwungene Muße, das verlangsamte Leben und die damit einhergehende Konzentration entstand ein Werk, das heute, wo wir ständig erreichbar sein sollen, kaum denkbar ist. Die wesentliche Aufgabe besteht für uns heute daher meines Erachtens nicht darin, zu entdecken, wer wir sind und noch werden können. Wirklich wichtig ist die Frage, was wir uns weigern sollten zu sein, wo wir den Impulsen aus der Umwelt nicht nachgeben.

Der Predigttext mit seiner über Jahrhunderte gesammelten Lebensweisheit bestärkt meine Skepsis gegenüber diesen Tendenzen in unserer Gesellschaft, wenn Jesaja sagt: Wozu zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Der jüdisch-christliche Glaube widerspricht unserer Leistungsgesellschaft: Du wirst nicht satt aus eigener Kraft, die Quelle, die deinen Durst stillt, ist nicht in dir selbst zu finden, deine Sehnsucht kommt nicht zum Ziel, wenn du noch besser geworden bist. Dass Jesaja damit zumindest teilweise Recht hat, sehen wir unter anderem daran, dass das ständige Bemühen um Perfektion immer häufiger zum psychischen Zusammenbruch, zu Burnout und Depression führt. Die Kehrseite unserer Leistungsgesellschaft.

Merkwürdig ist nun allerdings, wozu bei Jesaja die Durstigen und Hungrigen, die Armen, aufgefordert werden: Hören sollen die Durstigen, und das soll ihren Durst stillen, Hören soll die Hungrigen satt machen? Höret, so werdet ihr leben. Da bin ich also bei meinem Gebiet, der Hörforschung.

Wie essentiell das Hören für uns Menschen ist, soll zunächst ein Zitat von Helen Keller verdeutlichen, einer taubstummen und blinden Amerikanerin: „Blindheit entfernt von den Dingen, Taubheit von den Menschen“. Taubheit macht einsam, Taubheit schließt ein in eine eigene Welt. Aus diesem Grund wollten in Großbritannien taube Eltern einen Gentest für ihren Nachwuchs erstreiten. Er sollte sicherstellen, dass auch ihr Kind taub sein wird – und dann mit ihnen in der gleichen Welt lebt.

Ich weiß nicht, wie viele von ihnen den Film „Jenseits der Stille“ von Caroline Link kennen. Darin wird das Mädchen Lara geschildert, welches in zwei Welten lebt: in der ihrer taubstummen Eltern und – als Hörende – in unserer Welt. Als Lara ihr Interesse für die Musik entdeckt und Klarinette zu spielen beginnt, entfernt sie sich immer mehr von ihren Eltern, die sich durch ihre Taubheit zu Lara im wahrsten Sinne des Wortes nicht zugehörig fühlen.

Durch Sprechen und Hören entsteht erst vertraute Gemeinschaft. Denn das Hören setzt – wie die Liebe – ein Gegenüber voraus. Zuhören bedeutet, Interesse für einen Menschen zu zeigen, ihn ernst zu nehmen in seinen Anliegen und Bedürfnissen. Wenn Gemeinden das beherzigen, wenn wir zuhören, dann werden Gemeinden lebendig und Zuspruch erhalten. Hingehen. Zuhören. Einmischen – das ist für Papst Franziskus die Aufgabe der Kirche. Bonhoeffer hat es vor über 60 Jahren so formuliert: Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist". Für mich ist die Kirche einer der wenigen verbliebenen öffentlichen Räume, an denen sich Menschen ganz verschiedener Provenienz und Couleur treffen, ins Gespräch kommen, austauschen und gleichberechtigt wahrgenommen werden. Diese Abwendung von sich selbst hin zum Anderen, zum mitfühlenden Hören wird immer wichtiger in unserer Gesellschaft, in der zur Zeit die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, in der immer mehr Menschen vereinsamen und auf sich selbst zurückgeworfen sind. Wir lernen dabei auch, mehr im Anderen zu sehen als nur das, wozu er oder sie fähig ist. Wir zeigen einander, dass wir uns wichtig sind. Und so gilt nicht nur: Höret, so werdet ihr leben, sondern auch „wer gehört wird, wer dazugehört, der lebt auf“. Das ist nicht nur eine diakonische Aufgabe, der man um der Anderen willen nachkommt, denn durch das Hören aufeinander eröffnet sich uns ein weiter Horizont und unser Leben und unsere Gedankenwelt wird reicher, wie wir nach jeder regen Diskussion, jedem intensiven Gespräch erleben.

Ich habe vorhin von den zwei Welten im Film „Jenseits der Stille“ geredet, die der Hörenden und die der Tauben. Doch eigentlich sind es drei Welten. Denn Lara spielt Klarinette. Und hier in Lamberti muss natürlich beim Thema Hören auch etwas zur Musik gesagt werden. Hören kann einen passiven Charakter haben und diesen Aspekt kann man sehr gut am Beispiel des Musikhörens erläutern. Dabei bin ich zwar passiv – doch gleichzeitig erlebe ich beim Hören Neues, mache Erfahrungen, die mir sonst verschlossen bleiben würden.

In der zehnten Klasse haben wir in Französisch einen Text gelesen, der von einem Jungen im katholisch geprägten ländlichen Frankreich erzählte. Er langweilt sich entsetzlich im Sonntagsgottesdienst. Soweit konnten wir Schüler alle den Text sehr gut nachvollziehen, doch dann setzt in der Kirche Orgelmusik ein, und dem Jungen öffnet sich eine neue Welt. Hier endete unser Textverständnis – nicht nur aus sprachlichen Gründen. Dabei hätte uns das gar nicht so fremd sein müssen, denn hätte im Text Rockmusik statt Orgelmusik eingesetzt, wir wären sofort dabei gewesen – Herr Götting möge mir das verzeihen. Denn die Musik von den Beatles, The Who, Joe Cocker, Lou Reed oder Pink Floyd kündete uns, auch wenn wir nicht immer alle Texte verstanden, von einer Erfahrung jenseits unserer beschaulichen Kleinstadt. Wir müssen gar nicht immer aktiv sein, um unser Leben zu bereichern, unseren Horizont zu weiten, es gibt andere Wege als betriebsame Hektik, neue Erfahrungen tun sich auf, wenn wir uns zurücknehmen und zuhören. So findet manch einer, dem andere Zugänge verschlossen sind, bei Musik von Bach oder Händel einen Zugang zu Gott.

Doch wir sind etwas vom Predigttext abgeschweift, denn Jesaja geht es vorrangig nicht um das Hören auf andere Menschen, auch nicht um Musikgenuss, sondern um das Hören auf Gott. Für mich klingt da der Dreiklang an: Hören, vertrauen, leben. Die Einladung „Höret“ könnte dann bedeuten „vertraut mir, so werdet ihr leben.“ Wer hört, vertraut. Wer vertraut, wird zuversichtlicher leben. Ich komme noch einmal auf die Worte des 139. Psalms zurück: Und nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Ich lasse mir diese Worte sagen und mache sie mir zu eigen – und hoffe darauf, dass sie sich wieder bewahrheiten.

Zu Anfang meiner Predigt habe ich die Poesie dieser Worte hervorgehoben und bewundert. Diese Bibelstelle, ja die ganze Bibel, ist aber nicht nur poetischer als ein naturwissenschaftlicher Text, sondern bringt wie die Musik eine Saite in mir zum Klingen, die sich meiner naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise widersetzt bzw. diese ergänzt. Sie zeigt mir einen anderen Teil der Wahrheit über die Welt und uns Menschen und stellt mir einen Leitfaden zur Seite. Wir können die Entstehung der Erde und des Lebens heute naturwissenschaftlich besser erklären und nachvollziehen als zu biblischen Zeiten. Aber welche Verantwortung sich für mich und jeden Einzelnen ergibt, erschließt sich mir aus dem biblischen Schöpfungsbericht und dem „Gott sah, dass es gut war.“

Als Genetiker die DNA des Menschen entzifferten, meinte der damalige US-Präsident Bill Clinton, wir hätten nun die Sprache gelernt, in der Gott das Lebendige erschaffen hat. Unsere Erbinformation als Sprache Gottes? Nein, da möchte ich Clinton widersprechen. Die Sprache Gottes ist gerade nicht der naturwissenschaftliche Blick auf die Dinge und uns Menschen, die Sprache Gottes ergänzt diesen naturwissenschaftlichen Blick. Die Menschenwürde, das Doppelgebot der Liebe, der Auftrag, die Schöpfung zu bewahren, das alles kann ich aus einer rein naturwissenschaftlichen Sicht der Dinge nicht ableiten. Die Bibel ist dabei nicht exklusiv, denn auch andere Religionen, Philosophien und Wertekataloge kennen diese Wertvorstellungen. Aber die Bibel enthält wie kaum ein anderes Werk einen ungeheuren Fundus an Lebenserfahrung und Lebensweisheiten, Einblicke in menschliche Abgründe und Hoffnungen, aber auch ethische Vorgaben, die mir eine Orientierungshilfe sind und eine Ergänzung auf meine naturwissenschaftliche Sicht.

Höret, so werdet ihr leben, das heißt für mich: Höret, so werdet ihr reicher und erfüllter leben.

Amen.

Internetkoordinator (Stand: 19.01.2024)  | 
Zum Seitananfang scrollen Scroll to the top of the page