Plattdeutsch auf dem Campus? Gibt es an jeder Ecke: „Schnack statt Chat“ steht etwa auf den neuen Plakaten der #SafeOnCampus-Kampagne. Germanistik-Studierende können den Schwerpunkt Niederdeutsch wählen, und in der Mensa begrüßt ein großes Schild Hungrige mit einem „Moin moin“.
Dass Marina Rohloff und Marina Frank diese plattdeutschen Begriffe sofort ins Auge fallen, ist nicht überraschend. Plattdeutsch – das machen die germanistischen Sprachwissenschaftlerinnen beruflich. Beide sind Mitte 20 und forschen im Schwerpunkt Niederdeutsch und Saterfriesisch am Institut für Germanistik bei Prof. Dr. Jörg Peters.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Sprachen gibt es für das Niederdeutsche keine standardisierte Aussprache und Schreibung. Wie gut oder schlecht jemand „Platt schnackt“, lässt sich bislang kaum objektiv messen. „Vorgaben zur Aussprache gibt es nicht, sie unterscheidet sich ja auch von Region zu Region. Außerdem ist die Sprache ständig im Wandel und wird immer stärker beeinflusst vom Hochdeutschen“, sagt Marina Rohloff.
Probandinnen und Probanden lesen vor und erzählen
Deshalb sucht sie mit ihrer Kollegin jetzt nach objektiven Merkmalen, mit denen sich messen lässt, wie gut jemand Niederdeutsch spricht. Dafür interviewen die Doktorandinnen ihre Probandinnen und Probanden – rund 100 Menschen aus der ostfriesischen Krummhörn – und lassen von ihnen unter anderem Texte vorlesen und Bildergeschichten nacherzählen. Die aufgezeichneten Sprachdaten werden hinsichtlich Sprechgeschwindigkeit, Grundfrequenz und Stimmqualität analysiert.
Die 25-jährige Marina Frank ist in Baden-Baden aufgewachsen und hat in Marburg studiert – die räumliche Distanz zu ihrer ostfriesischen Forschungsregion könnte kaum größer sein. In ihren Bachelor- und Masterarbeiten hat sie sich noch mit dem Luxemburgischen beschäftigt. „Die Methoden in der regionalsprachlichen Forschung sind aber die gleichen“, sagt sie.
Forschung am ostfriesischen Wohnzimmertisch
Was sich allerdings deutlich unterscheidet, sind die kulturellen Gepflogenheiten. So fanden sich Rohloff und Frank am Anfang ihrer Erhebungen zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich an einem gut gedeckten ostfriesischen Wohnzimmertisch wieder. Der gehörte einer der Interviewerinnen, die die beiden in der Krummhörn für ihr Forschungsprojekt gewonnen hatten. Die Wissenschaftlerinnen selbst hätten die Gespräche mangels eigener Sprachkenntnisse nicht auf Plattdeutsch führen können. Die Plattdeutsch sprechende „Kollegin auf Zeit“ erweiterte ihren Auftrag kurzerhand um die Verpflegung der Gäste von der Universität Oldenburg und verwöhnte sie nebenbei auch noch mit Schnittchen, Kuchen und natürlich Ostfriesentee. „Eigentlich hatten wir geplant, uns in der Mittagspause nur schnell etwas vom Bäcker zu holen – aber das durften wir nicht“, erzählt Rohloff lachend.
Mit dem Beginn von Covid-19 hatte allerdings auch die ostfriesische Gastfreundschaft ein Ende. Die Interviews und Sprechaufgaben mussten plötzlich online stattfinden. Von den fast 100 Ostfriesinnen und Ostfriesen zwischen 15 und 87 Jahren blieben trotzdem viele im Forschungsprojekt und ließen sich teilweise von ihren Kindern erklären, wie sie den beiden Doktorandinnen in Oldenburg über das Internet ihre Fragen beantworten konnten. „Viele haben sich gerade während Corona über die Abwechslung gefreut“, sagt Frank. Außerdem sei die Teilnahme am Projekt für einige ein echtes Herzensprojekt.
Plattdeutsch als erste Sprache wird immer seltener
Auch für die Oldenburger Forscherinnen ist ihre Studie etwas ganz Besonderes. Die Menschen, die Plattdeutsch noch als erste Sprache gelernt haben, werden schließlich immer seltener. Männer oder Frauen, die ausschließlich Platt sprechen, gibt es gar nicht mehr. Umso interessanter ist es für Frank und Rohloff, herauszufinden, welchen Stellenwert diese Regionalsprache für die Menschen hat, die sie als Erst- oder Zweitsprache sprechen.
Hinweise auf Sprachkompetenz suchen sie in den akustischen Eigenschaften der Sprachdaten der Niederdeutsch-Sprechenden. Die Sprechgeschwindigkeit etwa gibt Auskunft darüber, wie flüssig jemand eine Sprache spricht. Und auch die Stimmlage, in der jemand spricht, hängt davon ab, wie sicher die Person beim Sprechen ist. In einer Fremdsprache sprechen die meisten Menschen höher, weil sie angespannt sind.
Forscherinnen wollen auch selbst „Platt” lernen
Noch bis Mitte nächsten Jahres läuft das Projekt „Akustische Indikatoren für Sprachdominanz bei bilingualen Sprechern und Sprecherinnen des Hoch- und Niederdeutschen in Ostfriesland“. Bis sie ihre Ergebnisse abgeben, wollen die Doktorandinnen die Sprache auch selbst sprechen können. Schon jetzt haben sie die ersten Lektionen mit der von der Ostfriesischen Landschaft herausgegebenen Plattlern-App „PlattinO“ absolviert und wollen im Wintersemester 2021/22 den niederdeutschen Sprachpraxis-Kurs ihres Kollegen Frank Fokken besuchen.
Denn obwohl sie als Jugendliche in Schleswig-Holstein schon einer niederdeutschen Bühne angehörte, spricht Rohloff die Sprache bisher genauso wenig wie ihre Kollegin aus Süddeutschland. Dass das „Moin moin“ auf dem Mensa-Plakat nicht so richtig passt, fällt ihr trotzdem auf. Das doppelte Moin, wie es in Schleswig-Holstein üblich ist, habe sie sich in Oldenburg mühsam abgewöhnt. „Ich musste mir immer wieder anhören, ,Moin moin‘ sei Gesabbel, und dann hängt so ein Plakat auf dem Campus“, sagt sie augenzwinkernd.