Ein neuer Vertrag zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der Natur – das ist das Ziel der Weltnaturschutzkonferenz, die derzeit im kanadischen Montréal stattfindet. Im Interview sprechen die Fischereibiologin Andrea Franke und die Meeresschutzexpertin Ute Jacob, beide Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg (HIFMB), über globale Herausforderungen und Wege, lokale Lösungen zu finden.
Im Sommer 1992 unterzeichneten die ersten Staaten die UN-Biodiversitätskonvention, die sogenannte Rio-Konvention. Jetzt, mehr als 30 Jahre später, kommen hochrangige politische Vertreter*innen zum zweiten Teil der 15. Weltnaturschutzkonferenz zusammen, um endlich Fortschritte beim Schutz der Natur und ihrer biologischen Vielfalt zu erzielen. Denn bisher wurden viele der politischen Ziele nicht erreicht – das Artensterben schreitet weiter unvermindert fort. Woran liegt das?
Andrea Franke: Ein großes Problem ist natürlich der Klimawandel, in den Weltmeeren also speziell die Erwärmung des Wassers. Dies trägt stark dazu bei, dass sich die biologische Vielfalt ändert. Ein bekanntes Beispiel ist die sogenannte Korallenbleiche, die zum Absterben von Korallen führen kann. Daher haben der Weltklimarat (IPCC) und der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) im vergangenen Jahr gemeinsam eindringlich beschrieben, wie eng Klimawandel und Biodiversitätsverlust zusammenhängen. Um den Verlust von biologischer Vielfalt zu stoppen, sollten wir also vor allem auf das 1,5-Grad-Ziel hinarbeiten, um den Klimawandel so gering wie möglich zu halten.
Weltweit sind Ökosysteme, auch in den Meeren, bereits so stark vom Menschen beeinflusst, dass sich die Frage stellt: Was ist das Ziel von Naturschutz?
Ute Jacob: Auch hier ist es wichtig, die Biodiversitätskrise und den Klimawandel nicht getrennt voneinander, sondern gemeinsam zu denken, um Zielkonflikte zu vermeiden. Artenreiche, intakte Ökosysteme sichern unsere Lebensgrundlage. Derzeit sind nicht nur einzelne Arten, sondern gesamte Ökosysteme stark beansprucht. Um diesen Trend umzukehren und die Struktur und Funktion der Ökosysteme wiederaufzubauen, brauchen wir gemeinsame klar definierte Ziele bis 2030. Es gibt zum Beispiel immer mehr Belege dafür, wie sinnvoll es ist, bestehende Schutzgebiete im Meer zu erhalten und neue zu schaffen. Denn diese binden und speichern Kohlenstoff und tragen so dazu bei, den Klimawandel abzumildern. Biodiversitäts- und Klimaschutz gehen Hand in Hand.
Andrea Franke: In der Europäischen Union, beispielsweise, definiert die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie als Ziel einen „Guten Umweltzustand“. Im UN-Nachhaltigkeitsziel 14 „Leben unter Wasser“ wird von einem gesunden Ozean – a healthy ocean – als Ziel gesprochen. Doch wie ein gesunder Ozean aussieht und wie sich Ozeangesundheit überhaupt messen lässt, ist leider nicht ganz klar. Also bleibt die Frage, wie man dahin kommt. Ich denke, das funktioniert nur über eine gesellschaftliche Veränderung, eine Transformation hin zu einer nachhaltigeren Nutzung aller Ressourcen. Doch solche Transformationsprozesse sind schwierig und komplex. Es ist gewissermaßen eine Reise ins Ungewisse – man will sich irgendwo hinbewegen, wo man vorher noch nicht war.
Wie könnte man diese Reise ins Ungewisse gestalten?
Andrea Franke: Um etwa lokal Dinge zu verändern, sind aus unserer Sicht sogenannte Reallabore gut geeignet. In diesen entwickeln Forschende von Beginn an bestimmte Fragestellungen gemeinsam mit anderen Beteiligten, die aus allen möglichen Bereichen kommen können, die für den jeweiligen Zusammenhang relevant sind – zum Beispiel Personen aus Behörden, der Industrie, NGOs oder einfach Menschen, die mit dem oder am Meer ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Beteiligten tauschen Wissen aus und arbeiten gemeinsam an Lösungen, die zu einer nachhaltigeren Nutzung der Meere führen.
Wie läuft so ein Prozess ab?
Andrea Franke: Die Beteiligten gehen in drei Schritten vor: Zu Beginn entwickeln sie gemeinsam Forschungsfragen und formulieren ein Ziel, etwa wie man eine bestimmte Fischerei besser managen könnte. Im nächsten Schritt tauschen die Beteiligten Wissen aus und experimentieren mit potentiellen Lösungsansätzen – und zwar gemeinsam. Wichtig ist, dass man sich gegenseitig zuhört und austauscht und der Transfer von Wissen nicht einseitig ist. Am Ende sollen nämlich Lösungen entstehen, die sich auch wirklich implementieren lassen. Also zum Beispiel ein ganz konkreter Managementplan für eine bestimmte Fischart in einer gewissen Region. Die Beteiligten können dann schauen, ob das Ganze funktioniert. Das heißt, es gibt eine gemeinsame Evaluation der Ergebnisse, das ist der dritte Schritt. Falls es Probleme gibt oder sich die Umstände inzwischen verändert haben, kann man den Prozess von vorne beginnen. Das ist ein iterativer Prozess, der bisher zu Meeresschutzfragen kaum so durchgeführt wird.
In welchen Fällen ist ein solches Vorgehen hilfreich?
Andrea Franke: Reallabore sind aus unserer Sicht eine vielversprechende Methode für die Meeresraumplanung. Denn wenn es darum geht, wie man ein gewisses Meeresgebiet oder einen Küstenstreifen am besten nutzt, dann treffen oft diverse Gruppen mit verschiedenen Interessen aufeinander – diese gilt es von Beginn an zusammenzubringen. Ein weiteres Beispiel ist das Fischereimanagement. Hier schlagen Forschende auf Grundlage von wissenschaftlichen Bestandsabschätzungen für kommerziell genutzte Fischarten jährlich bestimmte Fangquoten vor. Diese werden dann allerdings politisch nicht immer umgesetzt, am Ende sind die beschlossenen Fangquoten teilweise zu hoch. Wenn ökologisch wichtige Arten überfischt sind, dann wird das gesamte Nahrungsnetz im Meer beeinflusst. Daher sind Fischerei und ihr Management nicht nur wichtig für die jeweilige Fischart, sondern für die Biodiversität der Meere insgesamt. Um gemeinsam, nachhaltige Lösungen zu erarbeiten, können Reallabore den nötigen Rahmen schaffen, um zum Beispiel den Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Verantwortlichen aus der Fischerei zu verbessern.
Reallabore können also im lokalen Rahmen und bei konkreten Fragestellungen helfen, Lösungen zum Wohle aller zu finden. Doch zurück zur UN-Biodiversitätskonferenz – zur globalen Ebene: Was wäre aus Ihrer Sicht ein hoffnungsvoll stimmendes Ergebnis?
Ute Jacob: Es besteht weitestgehend Konsens darüber, dass der Schutz von mindestens 30 Prozent der Meere bis 2030 das Minimum ist, um den Verlust der biologischen Vielfalt einzudämmen und die Klimaziele zu erreichen. Die Herausforderungen bei der Umsetzung dieses 30x30-Ziels in der Praxis liegen zum Beispiel in den dringend benötigten Finanzierungshilfen für Entwicklungsländer, der hohen Bevölkerungsdichte sowie im Fehlen von einheitlichen nationalen und internationalen Gesetzesstandards. Wenn wir es zumindest schaffen, Schutzgebiete in den für die biologische Vielfalt und die Ökosystemleistungen wichtigsten Teilen der Meere einzurichten, dann wird auch das 30x30-Ziel einen deutlich größeren Effekt haben. Ich hoffe, dass die Weltgemeinschaft hier einen globalen Konsens auf der Konferenz erzielen kann.
Interview: Constanze Böttcher