Karina Moritzen hat den DAAD-Preis für herausragende Leistungen internationaler Promovierender für 2025 erhalten. Neben ihrer akademischen Forschung in den Oldenburger Game Studies engagiert sie sich vielfältige Weise für die Gesellschaft.
Es war mitten in der Corona-Pandemie, als bei Karina Moritzen die Idee für das Thema ihrer Doktorarbeit heranreifte: Im April 2020 las die Kommunikationswissenschaftlerin, die sich gerade am Ende ihres Masterstudiums befand, dass der US-amerikanische Rapper Travis Scott im Videospiel Fortnite aufgetreten war – und dass 12,3 Millionen Menschen auf der ganzen Welt die zehnminütige virtuelle Show quasi live erlebt hatten. Die Nachricht, dass ein Konzert in einer Gaming-Welt so viele Fans gleichzeitig erreichen konnte, faszinierte Moritzen. „Für mich war das ein bahnbrechender Moment: Mir wurde klar, dass hier eine völlig neue Kultur entsteht. Das wollte ich unbedingt untersuchen“, erzählt sie.
Im Oldenburger Promotionsprogramm „Gestalten der Zukunft“ fand die Brasilianerin mit dem Musikwissenschaftler Prof. Dr. Mario Dunkel einen Betreuer, der von dem Thema ebenso begeistert war wie sie – und so kam sie 2021 gemeinsam mit ihrem Mann aus ihrer Heimatstadt Natal im Nordosten Brasiliens nach Oldenburg. Wie gut sie sich seitdem sowohl an der Universität als auch in der Stadt eingelebt hat, beweist eine besondere Auszeichnung, die sie Mitte Dezember erhalten hat: Für ihre akademischen Leistungen und ihr soziales Engagement hat Karina Moritzen den Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für herausragende Leistungen internationaler Studierender und Promovierender an der Universität Oldenburg erhalten. Betreuer Dunkel bescheinigt seiner Doktorandin, sie forsche „auf allerhöchstem internationalem Niveau“ und sei darüber hinaus „auch lokal in Oldenburg sehr engagiert“.
Moritzens Dissertation darüber, wie sich in den Computerspielen Fortnite und Minecraft eine spezielle Musikszene und eigene Musikgenres gebildet haben, ist mittlerweile fast abgabereif. Sie promoviert gleichzeitig im Fach Musikwissenschaften an der Universität Oldenburg und im Fach Kommunikationswissenschaften an der Universidade Federal Fluminense in Rio de Janeiro – was ihr Vorhaben durchaus verkompliziert, sie aber nicht an einer zügigen Durchführung gehindert hat. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden sogenannte In-Game-Konzerte wie das von Travis Scott. Der Ursprung dieser Entwicklung lässt sich Moritzens Forschung zufolge in textbasierten Online-Rollenspielen der 1970er Jahre finden, wo die Spielenden musikalische Erfahrungen noch mit Worten beschrieben. Mittlerweile gibt es neben den spektakulären Shows aktueller Superstars auch virtuelle Musikfestivals mit Bands abseits des Mainstreams, etwa im Spiel Minecraft.
Mit Ariana Grande über den Regenbogen surfen
Die Forscherin untersuchte außerdem, welche sozialen Erfahrungen die Spielerinnen und Spieler bei Online-Konzerten machen. Dafür setzte sie ethnografische Methoden ein, führte etwa Interviews mit Teilnehmenden durch, wertete Fragebögen aus und nahm selbst an Events teil. Moritzen war etwa 2021 beim Konzert der Sängerin Ariana Grande in Fortnite dabei. Die Fans konnten gemeinsam mit einem Avatar des Popstars durch den Himmel fliegen, auf einem See tanzen und durch eine Fantasystadt laufen. Moritzen fand es großartig. „Zu Beginn meiner Forschung an diesem Thema war ich noch keine Gamerin. Was mich für das Thema begeistert hat, war die Rolle der Musik“, berichtet sie. Mit Auftritten vor Publikum hat sie selbst Erfahrung: In ihrer Heimatstadt Natal war sie Teil einer lebendigen Musikszene und machte als Leadsängerin einer feministischen Punkband auf sich aufmerksam.
Ein weiterer Aspekt ihrer Forschung befasst sich damit, wie Musikerinnen und Musiker Spiele als Plattform nutzen, um ihre Fans auf eine völlig neue Art und Weise zu erreichen. Neben dem immersiven Erlebnis bieten manche virtuellen Shows die Möglichkeit zur Interaktion, einige enthalten Anspielungen auf bekannte Musikvideos, oft werden die Spielwelten passend zur Musik des jeweiligen Stars gestaltet. „Es ist wichtig, diese Phänomene akademisch zu untersuchen, da sie mittlerweile einen wichtigen Teil der globalen Kultur bilden“, so Moritzens Einschätzung.
Das Fachgebiet, das sich mit Musik in Videospielen befasst, heißt offiziell Ludomusikologie oder Videospielmusikwissenschaft. Es ist ein noch sehr kleines Untergebiet der schon etablierteren Game Studies. „An internationalen Ludomusikologie-Kongressen nehmen vielleicht 50 bis 60 Forschende teil, viele davon aus Großbritannien“, berichtet Moritzen. Genau die Tatsache, dass das Feld noch sehr jung ist, motiviert sie: „Man kann die Entwicklung mitgestalten.“ Das tut die junge Wissenschaftlerin auch: Sie ist beispielsweise Mitherausgeberin einer demnächst erscheinenden Sonderausgabe der renommierten Fachzeitschrift „Popular Music“, die sich mit dem neuen Musicgenre Hyperpop beschäftigt, und Autorin eines Kapitels für das ebenfalls demnächst erscheinende Oxford Handbook of Online Music Cultures, gemeinsam mit Mario Dunkel.
International engagiert für die Ludomusikologie
Zudem engagiert sich Moritzen dafür, das Feld zu internationalisieren, damit auch Perspektiven aus dem globalen Süden stärker einfließen. Um Kolleginnen und Kollegen aus Lateinamerika zu fördern, hat sie sich für die Gründung der Lateinamerikanischen Gesellschaft für Ludomusikologie (ALLUM) eingesetzt. 2023 organisierte sie eine Fachkonferenz in Brasilien, eine weitere ist in Planung.
Auch in Oldenburg tut die DAAD-Preisträgerin einiges dafür, ihr Feld auszubauen. So ist sie Teil des 2023 gegründeten Forschungskollektivs Oldengame, zu dem auch weitere Promovierende des Promotionsprogramms „Gestalten der Zukunft“ gehören. Die Gruppe macht sich dafür stark, das Fachgebiet Game Studies an der Universität zu etablieren. An der Planung und Organisation von zwei Symposien zum Thema im Schlauen Haus war Karina Moritzen maßgeblich beteiligt. Weil das Interesse der Studierenden groß ist, hat sie in den letzten Semestern nicht nur in Oldenburg Lehrveranstaltungen gegeben, sondern auch an der Uni Hildesheim.
Oldenburg hat sie als zweite Heimat in ihr Herz geschlossen, erzählt sie in fließendem Deutsch. „Ich fühle mich hier sehr wohl.“ Selbst der norddeutsche Herbst inklusive Schmuddelwetter kann die Brasilianerin nicht schrecken: „Das Wetter macht mir nichts aus, im Gegenteil: Ich liebe die Jahreszeiten!“, bekennt sie. An der Stadt gefallen ihr die überschaubare Größe, die gute Fahrradinfrastruktur und das vielfältige kulturelle Angebot vom Staatstheater bis zum Cine K. Sie hat Freunde gefunden, von denen viele ebenfalls aus Südamerika stammen, unterrichtet an der Volkshochschule Portugiesisch und gibt Kletterunterricht. Auf die Frage wie sie dieses erstaunliche Pensum schafft, entgegnet sie nur trocken: „Es ist viel los gerade.“
Kaum überraschend, dass sie schon einen Antrag für ein Postdoc-Projekt in der Schublade hat. Ihr Ziel ist es, ihre Forschung mit einem Marie-Curie-Stipendium der EU oder im Walter-Benjamin-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Oldenburg fortsetzen zu können. Ihr neues Thema: Wie Kinder und Jugendliche auf der Spieleplattform Roblox als unbezahlte Entwickler ausgenutzt werden.