Vom hektischen Stadtleben aufs Land flüchten – angesichts von Industrialisierung und Urbanisierung war das für viele Intellektuelle im 19. Jahrhundert eine verlockende Option. Wie Landschaften damals zu Projektionsflächen wurden, untersucht der Kulturhistoriker Thomas Etzemüller.
Heinrich Heine, Clemens Brentano, Robert Schumann, Richard Wagner – sie und noch viele andere besangen im 19. Jahrhundert den Rhein. Der Fluss und die Landschaft von Bonn bis Bingen waren für sie mehr als nur Wasser, Weinberge und Burgen. In ihren Werken ging es auch um Nationalbewusstsein, Mittelalterromantik und Natursehnsucht in einer Zeit, in der die Städte wuchsen und die Industrie sich immer weiter entwickelte. Der Rhein wurde zur politischen Projektionsfläche – eine Entwicklung, die sich auch für andere Gegenden, etwa die schwedische Provinz Dalarna, beobachten lässt. Thomas Etzemüller, Professor für Kulturgeschichte der Moderne, beschäftigt sich in seiner Forschung eingehend mit diesen Regionen. Er nennt sie „imaginary landscapes“, imaginäre Landschaften.
Warum „imaginär“? Etzemüller übernahm diesen Begriff von dem Kulturwissenschaftler Thomas O’Dell von der schwedischen Universität Lund. „Dass man mit einer Landschaft bestimmte Erinnerungen oder Sehnsüchte verbindet, kennen wahrscheinlich die meisten von uns“, erläutert Etzemüller. „,Imaginary Landscapes‘ spiegeln aber weniger individuelle Vorstellungen, sondern eher politische Programme wider.“ Angesichts von Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert wurden Ballungsräume und Großstädte in der Wahrnehmung vieler bürgerlicher Intellektueller zu Sinnbildern von gesellschaftlichem Verfall, Elend und Vereinsamung. Ihnen gegenübergestellt wurde die scheinbar ursprüngliche Natur, die es jetzt zurückzuerobern galt.
Eine Hofanlage in der Großstadt
Konkret gemeint war damit beispielsweise Dalarna. Die Region in Mittelschweden mit ihrer Berg-, Seen- und Flusslandschaft, mit Rentierzüchtern und Bauern, wurde während der Industrialisierung immer mehr zum Reiseziel von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen. Einer von ihnen war der Ethnologe Artur Hazelius. Bei einer Reise in den 1870er-Jahren war er so fasziniert von Landschaft und Kultur, dass er eigens eine Hofanlage aus Dalarna in die Hauptstadt überführte. Ab 1891 war sie im „Skansen“ zu sehen, dem berühmten von Hazelius gegründeten Freilichtmuseum. „So wollte er dem urbanen Publikum das aus seiner Sicht ursprüngliche schwedische Leben vor Augen führen und seiner angeblichen Vereinzelung und Naturentfremdung etwas entgegensetzen“, erläutert Etzemüller. Die Wirkung blieb nicht aus: Mit der Gründung des „Skansen“ wurde Dalarna als Reiseziel noch beliebter.
In Deutschland war es der Mittelrhein, die Gegend zwischen Bonn und Bingen, die ab dem späten 18. Jahrhundert zur politischen Projektionsfläche wurde – aus mehreren Gründen. Zum einen ging es darum, den Rhein als angeblich urdeutschen Fluss zu stilisieren, nachdem infolge der napoleonischen Kriege Ende des 18. Jahrhunderts das Rheinland durch Frankreich besetzt worden war. Zum anderen begeisterten sich viele Künstler und Schriftsteller der Romantik für das Mittelalter, auch als Reaktion auf die zeitgenössische Urbanisierung. Wie in Schweden das Landleben dem Stadtleben gegenübergestellt wurde, so in Deutschland das Leben des Mittelalters dem der Moderne. Der Rhein mit seinen vielen Burgen wurde zum Sinnbild einer verklärten Epoche. „Für Heinrich von Kleist etwa symbolisierte der vorindustrielle, nicht domestizierte Rhein ein friedliches Leben im Einklang mit der Natur“, bemerkt Etzemüller. „Im Gegensatz dazu beschrieb er das lärmende, rastlose Paris, das den Menschen an Geist und Körper schädige.“ Die Mittelalterbegeisterung ist noch heute in der Landschaft sichtbar: Das preußische Herrscherhaus ließ zahlreiche Burgruinen entlang des Rheins rekonstruieren.
Mehrere Aufsätze zum Thema hat Etzemüller bereits veröffentlicht, ein Buch ist in Planung. In seine Forschung bezieht er neben dem Rhein und Dalarna auch andere Landschaften wie das Sauerland, den englischen Lake District oder die pontinischen Sümpfe in Italien ein. Dabei analysiert er Reiseführer ebenso wie Gemälde oder Leporellos, gedruckte Panoramaansichten des Rheins für Touristen. Denn der Tourismus spielt in der Geschichte der „imaginary landscapes“ eine bedeutende Rolle. Auf der Suche nach der von Dichtern, Malern und Wissenschaftlern gepriesenen Ursprünglichkeit machten sich immer mehr Touristen auf den Weg nach Dalarna oder an den Rhein. Das blieb nicht ohne Konsequenzen: „Oft wurden Traditionen, die schon im Niedergang begriffen waren, durch den Tourismus wiederbelebt“, sagt Etzemüller. In Dalarna gründeten sich Heimatvereine, die historisch wertvolle Hofanlagen bewahrten. Künstler und Schriftsteller von außerhalb belebten alte, schon fast vom Aussterben bedrohte Traditionen. Gleichzeitig gab es immer häufiger Beschwerden über die Reisenden: Der „Durchschnittstourist“, hieß es etwa in einem schwedischen Reiseführer von 1908, sehe Dalarna nur als ein „vergrößertes Skansen“, in dem ihm alles „zur Zerstreuung dient“.
Naherholung statt Utopie
„Diese Debatten erinnern an heutige Beschwerden über Touristen, die angeblich ständig an ihren Smartphones kleben und Fotos schießen, anstatt sich wirklich auf fremde Kulturen einzulassen“, bemerkt Etzemüller. Der Tourismus und die Debatten über ihn sind also geblieben – aber gibt es auch heute noch imaginäre Landschaften? Etzemüller zeigt sich skeptisch. Zwar verbringt noch heute mancher Großstädter seinen Urlaub auf dem Land. Doch die Vorstellung, dass die Gesellschaft durch den Kontakt mit der Natur von den Übeln der Zivilisation geheilt werden könne, sei ab der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwunden. Und so änderte sich die Wahrnehmung von Gegenden wie Dalarna oder dem Rhein abermals. Aus Sinnbildern für gesellschaftspolitische Utopien wurden Naherholungsgebiete, Urlaubs- und Sehnsuchtsorte.