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Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik

Übersichtsseite zur Corona-Pandemie

Vita

Prof. Dr. Dr.  Joachim Willems ist seit 2016 Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität Oldenburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Interreligiosität und Interkulturalität als Themen der Religionspädagogik. Darüber hinaus befasst er sich auch mit der Konzeptualisierung und Evaluation religiöser und interreligiöser Kompetenz.

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Prof. Dr. Dr. Joachim Willems

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  • Das persönliche Gebet kann den gemeinsamen Gottesdienst nicht ersetzen, sagt der Religionspädagoge Joachim Willems. Foto: Adobe Stock/christianchan

Glaube in der Isolation

Religion ohne Gemeinschaft – ist das möglich? Im Interview erläutert der Oldenburger Religionspädagoge Joachim Willems, was die momentane Situation für die Kirchen bedeutet und ob Isolation auch Chancen eröffnen kann.

Religion ohne Gemeinschaft – ist das möglich? Im Interview erläutert der Oldenburger Religionspädagoge Joachim Willems, was die momentane Situation für die Kirchen bedeutet und ob Isolation auch Chancen eröffnen kann.

Herr Professor Willems, auch die Kirchen befinden sich aufgrund der Corona-Pandemie in einer besonderen Situation…

Das kann man wohl so sagen. Dass es grundsätzlich verboten ist, sich zu Gottesdiensten zu treffen, ist ein tiefer Einschnitt in das religiöse Leben, gerade in der Passionszeit und zu Ostern. Auch historisch ist das ohne Vergleich. Bei früheren Seuchen und Pandemien war daran nicht zu denken – auch, weil man noch weniger Wissen über die Verbreitungswege von Krankheiten hatte.

Jeder hat ja weiterhin die Möglichkeit, für sich allein zu beten – reicht das nicht aus?

Nein, denn alle Religionen haben eine sehr starke gemeinschaftliche Dimension. Manche Religionssoziologen nennen es sogar eine Funktion von Religionen, dass sie Gemeinschaften stiften und erhalten. Im Judentum etwa spielt der Minjan eine besondere Rolle: eine Versammlung von mindestens zehn Personen, die gemeinsam Gottesdienst feiert. Im Islam hat neben dem persönlichen Gebet das rituelle Freitagsgebet einen zentralen Stellenwert, und im Christentum der Sonntagsgottesdienst.

Trotzdem gibt es in vielen Religionen, auch im Christentum, Gläubige, die bewusst die Einsamkeit suchen. Auf welche Vorbilder berufen sie sich?

Vorbilder für so einen Lebensstil gibt es schon in der Bibel. Da ist zum Beispiel die Rede von Johannes dem Täufer, der zurückgezogen in der Wüste lebt, das Kommen des Messias verkündet und Jesus tauft. Nach seiner Taufe zieht sich auch Jesus 40 Tage in die Wüste zurück, bevor er selbst Jünger um sich sammelt. Darüber hinaus muss man sich vor Augen führen, dass die ersten Christen in einer Art Endzeitstimmung lebten: Sie waren überzeugt davon, dass bald das Reich Gottes kommen und die damals herrschenden Umstände nicht mehr von langer Dauer sein würden. Aus dieser Grundhaltung heraus begannen einige, sich bewusst von der Welt abzugrenzen oder zurückzuziehen.

Wie sah dieser Rückzug konkret aus?

Dafür gibt es in der Geschichte des Christentums ganz unterschiedliche Beispiele. Aus der Ostkirche bekannt sind die sogenannten Säulenheiligen, die im 4. und 5. Jahrhundert einen Großteil ihres Lebens auf den Kapitellen von Säulen zubrachten. Andere zogen sich in abgelegene Gebiete wie Wüsten oder Inseln zurück. Man muss allerdings dazu sagen, dass sie sich trotz ihrer Abgeschiedenheit weiterhin als Teil der Kirche sahen. Häufig wurden sie als religiöse „Leistungssportler“ gesehen, die religiöse Praktiken nicht nur für sich selbst, sondern auch stellvertretend für andere ausübten. Dass einzelne Gläubige so herausragende Stellungen einnahmen, stieß in der Reformation auf Widerstand: Die Reformatoren betonten die Gleichheit aller Gläubigen, ob Priester oder Bauer. Daher gibt es auch in der evangelischen Tradition so gut wie kein Ordensleben mehr, während in der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche nach wie vor einzelne Gläubige in klösterlicher oder eremitischer Abgeschiedenheit leben.

Können wir von diesen Menschen etwas für unser momentanes Leben in der Isolation lernen?

Das ist schwer zu beantworten, weil die Ausgangssituationen so unterschiedlich sind. Wer in religiöser Abgeschiedenheit lebt, macht das aus eigenem Antrieb – nicht jede Persönlichkeit ist für ein solches Leben geeignet. Wir hingegen müssen uns mit der Isolation abfinden, ob wir wollen oder nicht. Das strukturierte, ritualisierte Leben in klösterlichen Gemeinschaften könnte dennoch für manche ein Orientierungspunkt sein: Ähnlich wie es dort feste Gebetszeiten gibt, könnte man sich auch im Alltag feste Zeiten einrichten, in denen man versucht, zur Ruhe zu kommen – mit Gebet und Meditation, oder auch, indem man beispielsweise in Ruhe ein Gedicht liest und darüber nachdenkt.

Wie können die Kirchen ihrem Auftrag trotz des Gottesdienstverbots weiter nachkommen?

Vieles lässt sich trotz der Einschränkungen umsetzen: In manchen Gemeinden nähen etwa ehrenamtliche Mitglieder Gesichtsmasken oder Kinder malen Bilder für ältere, alleinlebende Gemeindemitglieder. Viele Gemeinden bieten auch virtuelle Gottesdienste oder Online-Seelsorge an.

Bietet die momentane Situation für die Kirchen auch Chancen – beispielsweise durch die Digitalisierung?

Es mag sein, dass manche die digitalen Angebote der Kirchen jetzt verstärkt nutzen. Andere scheuen vielleicht gerade hiervor zurück und schränken den Kontakt zu ihrer Gemeinde in dieser Zeit eher ein. Die Zeit wird zeigen, ob die aktuelle Situation langfristig zu einem Digitalisierungstrend in den Kirchen führt oder ob das ein vorübergehendes Phänomen bleiben wird.

Interview: Iria Sorge-Röder

 

 

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