Die Nordseeinsel Spiekeroog ist ein riesiges Naturlabor. Die Umweltforscherinnen Gudrun Massmann und Luise Giani haben untersucht, wie der wilde Ostteil der Insel nach und nach zu neuem Land wird.
Die große Wildnis beginnt hinter dem Nationalparkhaus Wittbülten. Das rote Backsteingebäude, in dem sich Besucher über die Tier- und Pflanzenwelt des Wattenmeers informieren können, markiert in etwa die Stelle, an der die Insel Spiekeroog noch 1950 zu Ende war. Damals gab es hier nur einige kleine, weiße Sandhaufen (auf Plattdeutsch: Wittbülten) – und dahinter eine nackte Sandbank und Meer, soweit das Auge reichte. Heute kann man vom Nationalparkhaus aus noch stundenlang auf festem Untergrund in Richtung Osten wandern: Hinter dem Gebäude beginnt ein Trampelpfad, der sich zwischen einem Dünenzug und flachen, von Prielen und Tümpeln durchzogenen Salzwiesen rund sieben Kilometer bis ans Inselende schlängelt.
Der unscheinbare Weg, den Besucher wegen der zahlreichen hier brütenden Vögel nur im Winterhalbjahr betreten dürfen, führt durch eine der unberührtesten Landschaften Deutschlands – die Ostplate der Insel Spiekeroog. Seit 1971 steht der neue Inselteil wie der Rest der Ostfriesischen Inseln unter Schutz, seit 1986 zählt er zur Ruhezone des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer, liegt also im am strengsten geschützten Bereich. „Es gibt keinerlei Küstenschutzmaßnahmen, keinerlei Bebauung. Die Landschaft ist wirklich sich selbst überlassen – ein Kleinod des Nationalparks“, schwärmt Prof. Dr. Gudrun Massmann, Leiterin der Arbeitsgruppe Hydrogeologie und Landschaftswasserhaushalt an der Universität Oldenburg. Die einzigen Kräfte, die hier walten, sind Gezeiten, Wind und Wetter. Immer wieder durchbrechen Sturmfluten die jungen Dünen, lagern neuen Sand ab und spülen Salzwasser in die Zwischenräume.
Einzigartiges Versuchslabor
All das macht die Ostplate zu einem einzigartigen Versuchslabor: „Man kann förmlich dabei zugucken, wie die Landschaft sich weiterentwickelt, wie die Dünen immer höher werden und die Vegetation sich wandelt“, berichtet Prof. Dr. Luise Giani, die an der Universität die Arbeitsgruppe Bodenkunde leitet. Weniger sichtbar sind die Veränderungen unter der Oberfläche, die entscheidend dafür sind, dass aus der ehemaligen Sandbank ein Stück neues Land wird: Dort laufen verschiedene chemische Reaktionen ab, Stoffe lagern sich um, süßes Regenwasser versickert in den Dünen, verdrängt das salzige Meerwasser und bildet zusammenhängende Süßwasservorkommen.
Diese Prozesse waren es, denen Massmann, Giani und die (inzwischen promovierten) Doktoranden Dr. Thomas Pollmann, Dr. Tobias Holt und Dr. Stephan Seibert von 2015 bis 2019 minutiös nachgegangen sind. Ihr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt trug den Titel „Chronosequentielle Entwicklung von Böden und Süßwasservorkommen einer Barriereinsel am Beispiel der Ostplate Spiekeroogs“.
Wachstum im Zeitraffer
Die Geschichte der Ostplate begann Ende des 19. Jahrhunderts, als die letzten Reste der früheren Harlebucht eingedeicht wurden. Die ursprünglich 15 Kilometer breite Meeresbucht reichte noch im 16. Jahrhundert etwa zehn Kilometer tief ins Binnenland, fast bis zum heutigen Jever. „Die Strömungsmuster im Wattenmeer haben sich durch das Eindeichen so verändert, dass sich östlich von Spiekeroog mit atemberaubender Geschwindigkeit Sand angelagert hat“, erläutert Massmann. Um 1920 tauchte eine Sandplate am Ostende der Insel auf, vor 60 Jahren wuchsen darauf erste Dünen heran, vor 30 Jahren hatten sich eine sieben Kilometer lange, von Strandhafer bedeckte Dünenkette und ein breiter Streifen flacher Salzwiesen gebildet.
Im Mittelpunkt des hydrologischen Teils des Projekts stand die Frage nach dem Süßwasser: Eine Besonderheit der Ostfriesischen Inseln besteht darin, dass sie trotz ihrer geringen Größe eigene Süßwasservorräte haben, sogenannte Süßwasserlinsen, die von Regenwasser gespeist werden und sozusagen auf dem dichteren Salzwasser im Untergrund schwimmen. Die Linse im Westteil Spiekeroogs ist beispielsweise fast 50 Meter mächtig und versorgt Bewohner und Touristen mit Trinkwasser. Doch wie sich diese Vorkommen bilden, wie groß sie sind, wovon ihre chemische Zusammensetzung abhängt und welche Rolle die Böden dabei spielen, war bislang kaum bekannt. „Nur auf der Ostplate hat man die Möglichkeit, die Bildung einer Süßwasserlinse in einem initialen Stadium zu erforschen“, sagt Massmann, auch wenn dort niemand Wasser fördern wolle.
Für die Untersuchungen musste das Team Spiekeroog regelmäßig besuchen. Die Forscher nahmen im Verlauf eines Jahres Hunderte von Boden- und Wasserproben. Hierfür installierten sie unter anderem 15 neue Grundwassermessstellen, die bis heute mithilfe eingebauter Datenlogger permanent Wasserstand und Salzgehalt bis in eine Tiefe von fünfzehn Metern aufzeichnen. „Die Beprobungen liefen natürlich in enger Absprache mit der Nationalparkverwaltung und den Rangern, wir mussten uns an strenge Auflagen halten“, betont Giani.
Grenzgebiet zwischen Land und Meer
Die Arbeit im Naturschutzgebiet war für alle etwas Besonderes: „Die Ostplate ist eine ganz eigene Welt“, sagt Pollmann. Bei den ausgedehnten Märschen zu den Messpunkten stand das Team ständig unter Zeitdruck, da die Salzwiesen bei Hochwasser teilweise überflutet werden. Zudem mussten die Forscher ihre Ausrüstung – zum Beispiel Spaten, Bohrgeräte, Kameras, Pumpen und Messvorrichtungen – zu Fuß transportieren und die gewonnenen Proben im Rucksack wegtragen. Nicht selten schleppten sie zwanzig Kilogramm und mehr mit sich herum.
Die Daten, die sie auf dem neuen und zum Vergleich auch auf dem alten Inselteil sammelten, zeigten den Experten, dass die Ostplate nach wie vor ein Grenzgebiet zwischen Land und Meer ist, das von Gezeiten und Sturmfluten geprägt wird. So ergaben Holts Messungen und Modellrechnungen beispielsweise, dass unter den Dünen der Ostplate zwar bereits mehrere voneinander getrennte Süßwasserlinsen existieren, deren Bildung vermutlich um 1975 begann.
Diese unterliegen allerdings anderen Gesetzen als ihr Pendant im Westteil der Insel: „Die Süßwasserlinsen sind nur zwei bis vier Meter mächtig, also viel flacher als die im Westen“, berichtet Holt. Seine Modellierungen ergaben zudem, dass die Vorkommen unter den gegebenen Umständen wohl erst einmal nicht weiter anwachsen werden. „Sie haben schon die maximal mögliche Größe erreicht und befinden sich in einer Art Gleichgewicht“, erläutert der Forscher. Niederschläge füllen die Süßwasserlinsen zwar auf, doch die winterlichen Sturmfluten begrenzen ihr Wachstum: Durch sie dringt nördlich und südlich der Dünen regelmäßig Meerwasser in den Untergrund ein, wodurch Süßwasser versalzt und die Vorkommen sich wieder verkleinern. Auf diese Art wachsen und schrumpfen die Linsen im Rhythmus der Jahreszeiten. Nur wenn die Dünen der Ostplate in Zukunft weiter anwachsen würden und sich beispielsweise ein weiterer Dünenzug bildete, könnten sich die Vorkommen vergrößern.
Der Weg des Regenwassers
Mithilfe der Proben aus den Grundwassermessstellen der Ostplate und Proben aus Brunnen im Westteil der Insel untersuchte Seibert, welche chemischen Prozesse sich auf dem Weg des Regenwassers durch die Dünen und schließlich innerhalb der Süßwasserlinsen abspielen. Seine Messungen zeigen, wie sich die chemische Zusammensetzung des Grundwassers mit zunehmendem Alter verändert. Beispielsweise bauen Mikroben organisches Material mithilfe reaktionsfreudiger Substanzen wie Sauerstoff, Nitrat oder Sulfat ab, wobei neue Verbindungen wie etwa das Eisenmineral Pyrit entstehen. „Das älteste Wasser in der Hauptlinse im Westen Spiekeroogs ist etwa 50 Jahre alt“, erklärt Seibert.
Die kleineren Linsen auf der Ostplate erwiesen sich im Vergleich dazu als wesentlich jünger und dynamischer. Das Wasser dort war maximal fünf Jahre alt. Das Team stellte außerdem fest, dass Süß- und Salzwasser dort nicht scharf getrennt sind, wie es dem Lehrbuchbild entspricht, sondern dass es eine breite Übergangszone gibt: „Dort trifft sauerstoffreiches, salziges Meerwasser mit Süßwasser zusammen, das keinen Sauerstoff und kein Nitrat, dafür aber zum Beispiel gelöstes Eisen enthält. Dabei fallen manche Mineralien aus, andere lösen sich“, erläutert Seibert.
Chemische Reaktionen finden auch im Boden oberhalb des Grundwassers statt. Pollmanns Messungen ergaben, dass die Böden des neuen Inselteils – anders als erwartet – kaum altern: Dünen und Salzmarschen im Westen der Ostplate sind zwar früher entstanden als jene weiter im Osten, befinden sich aber aus bodenkundlicher Sicht im gleichen Entwicklungsstadium. „Gezeiten, Wind und Sturmfluten arbeiten derzeit gegen die Bodenbildung an, sie halten die Böden in einem jungen Stadium“, berichtet der Forscher.
Gefahr durch Sturmfluten
Die Ostplate, das zeigen die Projektergebnisse, ist nach wie vor eine dynamische Landschaft, die sich frei von Küstenschutz ständig verändert. Doch wie werden sich die Ostfriesischen Inseln in Zukunft entwickeln, wenn der Meeresspiegel weiter ansteigt und sich schwere Sturmfluten möglicherweise häufen? Im Rahmen eines gerade gestarteten Verbundprojekts will das Oldenburger Hydrogeologie-Team klären, wie sich der Klimawandel auf die Süßwasserlinsen auswirkt – und wie sich diese für die Inselbewohner so wichtigen Vorkommen nachhaltig managen lassen.
„Problematisch wären vor allem Sturmfluten, die schützende Dünen durchbrechen“, erläutert Gudrun Massmann. „Wenn sie bewirken, dass Meerwasser von oben in eine Süßwasserlinse sickert, die zur Trinkwassergewinnung genutzt wird, dann ist das Vorkommen womöglich auf Jahrzehnte unbrauchbar.“ Das Gleichgewicht zwischen Niederschlag, Wasserentnahme und untermeerischem Abfluss sei „labil und im schlimmsten Fall nicht wiederherzustellen“ – so wie auf Langeoog, wo mehrere Sturmfluten im 18. und 19. Jahrhundert die Insel und ihre Süßwasserlinse teilten. Diese hat sich davon bis heute nicht erholt: Sie besteht nach wie vor aus zwei getrennten Bereichen.
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe des Forschungsmagazins EINBLICKE.