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Dr. Jennifer Turner

Crime and Carcerality

 

  • Turners Forschungsgebiet über geschlossene Räume zählt zu einer neuen und vielfältigen Teildisziplin der Geografie, der „Carceral Geography“. Foto: Universität Oldenburg

  • Jennifer Turner untersucht Räume von Kriminalität und Freiheitsentzug. Ihr Spezialgebiet sind Gefängnisse und deren vielfältige Verbindungen zum Militär. Foto: Universität Oldenburg

Gefängnis verstehen

Die militärische Vergangenheit von Gefängnissen und ihrem Personal prägt das gesamte Strafvollzugssystem, ist sich Jennifer Turner sicher. Am Institut für Sozialwissenschaften untersucht sie Verbindungen zwischen Gefängnissen und Militär.

Die militärische Vergangenheit von Gefängnissen und ihrem Personal prägt das gesamte Strafvollzugssystem, ist sich Jennifer Turner sicher. Am Institut für Sozialwissenschaften untersucht die Humangeografin die Verbindungen zwischen Gefängnissen und dem Militär.

Es ist der Mai 2020 im britischen West Yorkshire: Einige Jugendliche Straftäter nehmen an Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges teil. Sie befinden sich in einer ehemaligen Marineeinrichtung, die heute ein Gefängnis ist. Gefängnispersonal mit militärischem Hintergrund beaufsichtigt die jungen Gefangenen. „Zwischen Gefängnissen und dem Militär bestehen tiefverwurzelte Verbindungen“, sagt Dr. Jennifer Turner. Und das nicht nur in Großbritannien, ist sich die Humangeografin sicher, sondern in vielen Ländern des Globalen Nordens – vermutlich auch in Deutschland. Für Turner haben diese besonderen Verbindungen viele Aspekte: Gefängnisse befinden sich häufig in ehemaligen Militärgebäuden, zum Personal gehören vermehrt frühere Militärangehörige, und unter den Häftlingen sind – zumindest in Großbritannien und den USA – vergleichsweise viele Veteranen. Als Gefängnis-Militär-Komplex bezeichnet die gebürtige Britin diese bislang kaum untersuchten Zusammenhänge, denen sie ihre Forschung widmet.

Zwischen Gefängnissen und dem Militär bestehen tiefverwurzelte Verbindungen.“

Seit 2020 ist Turner am Institut für Sozialwissenschaften tätig und hat die Arbeitsgruppe „Crime and Carcerality“ aufgebaut. Ihr Forschungsgebiet zählt zu einer neuen und vielfältigen Teildisziplin der Geografie, der „Carceral Geography“. Dieses Feld, zu dessen führenden Protagonistinnen Turner gehört, ergänzt die bislang vorwiegend soziologisch orientierte Gefängnisforschung um eine räumliche Sicht – mit dem Ziel, die Funktionsweise von Haftanstalten und die anderer geschlossener Räume wie Flüchtlingslager, Psychiatrien, Alten- oder Kinderheimen besser zu verstehen. Mit ihrer Arbeitsgruppe will Turner die Art der Gefängnisforschung nun auch in Deutschland etablieren, wo sie bisher kaum vertreten ist. Ihr Fokus liegt dabei zunächst auf dem Gefängnispersonal und der Frage, welche Rolle Ex-Militärs als Wachpersonal spielen. „Für unsere Studie in Großbritannien haben wir ehemalige und aktuelle Mitarbeitende unter anderem zu ihren militärischen Erfahrungen, Aufgaben und der Dauer ihrer Dienstzeit befragt“, erklärt Turner. Auch in Kanada hat sie Daten erhoben; entsprechende Studien plant sie nun in Deutschland und beispielsweise Norwegen. Ihr Ziel ist der Vergleich von Ländern mit unterschiedlicher militärischer Vergangenheit und verschiedenen Zugängen zum Gefängnisdienst.

„Aus dem Vergleich erhoffen wir uns Anhaltspunkte, wie sich das Gefängnissystem weiter verbessern lässt“, sagt Turner, die sich kürzlich habilitiert hat. So könnten die Daten beispielsweise Aufschluss darüber geben, ob es sinnvoll ist, dass Gefängnisse – wie etwa in Großbritannien – gezielt ehemaliges Militärpersonal einstellen. Turner vermutet, dass frühere Soldaten aufgrund ihrer Erfahrungen leichter als andere Gefängnismitarbeitende eine gemeinsame Basis mit inhaftierten Veteranen finden können.

In drei 2021 und 2022 veröffentlichten Studien konnte Turner zeigen, dass in Großbritannien etwa 25 Prozent des Gefängnispersonals einen militärischen Hintergrund haben – auch für die Wissenschaftlerin ein erstaunlich hoher Anteil. „Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass dieser Gruppe schon die Ausbildung besser gefällt als anderen“, so Turner. Das Team schließt daraus, dass sich Menschen mit militärischem Hintergrund allgemein besser in die größtenteils vertrauten Strukturen mit Uniform und formeller Sprache einfügen.

Doch wie wirkt sich die vorherige Militärzugehörigkeit auf die beruflichen Kompetenzen aus? „Wir hören häufig das Vorurteil, dass Strafvollzugspersonal mit militärischem Hintergrund besonders streng und distanziert sei, Gefangene auch mal schikaniere und bei Bedarf Gewalt anwende“, sagt Turner. Ihre Untersuchungen zeigen jedoch, dass eher das Gegenteil der Fall ist: 73 Prozent des Gefängnispersonals mit militärischem Hintergrund sehen den eigenen Arbeitsplatz weniger als Ort der Bestrafung, sondern vielmehr als Ort der Resozialisierung.

Wir erhoffen uns Anhaltspunkte, wie sich das Gefängnissystem weiter verbessern lässt.“

Zudem wurde deutlich, dass sich ehemalige Soldaten zwar durch typisch militärische Eigenschaften wie Disziplin, Pünktlichkeit und Respekt auszeichnen. Sie bringen aber auch viele anfangs unerwartete Wesensmerkmale mit. „Wir konnten zeigen, dass mit militärischer Erfahrung etwa Empathie, Kommunikationsfähigkeit und ein Verständnis für Diversität einhergehen“, erklärt Turner. Auch seien die Ex-Militärs häufig wachsam und gut geschult im Umgang mit Krisensituationen. „Wenn ich eingesperrt wäre, würde ich hoffen, dass die Mitarbeitenden sich genau durch solche Eigenschaften auszeichnen“, findet Turner. Ob Inhaftierte das genauso sehen, ist ein Thema, das die Geografin künftig untersuchen will: „Es wird uns nur dann gelingen, die militärische Natur von Gefängnissen und die Rolle des Gefängnispersonals vollständig zu erfassen, wenn wir die Perspektive der Inhaftierten kennen und einbeziehen“, ist sich Turner sicher.

Dieser Text ist zuerst erschienen in der Ausgabe 2022/23 des Forschungsmagazins EINBLICKE.

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