Was bleibt von Karl Jaspers? Im Interview spricht der Ideenhistoriker Matthias Bormuth über die Pläne der neuen Oldenburger Karl-Jaspers-Gesellschaft, Jaspers´ Blick von außen auf die Wissenschaft – und warum ein solcher Blick auch heute noch lohnt.
FRAGE: Herr Bormuth, die Bibliothek von Karl Jaspers hat im Oldenburger Jaspers-Haus ihre neue Heimat gefunden, auch Sie arbeiten dort. Wie sind die ersten Eindrücke?
BORMUTH: Es ist aufregend, mit dieser Bibliothek zu forschen. So konnte ich schon Jaspers´ Hölderlin- Deutungen ideengeschichtlich gleichsam bis zum Ursprung verfolgen. Seine Anstreichungen und Kommentare in den Gedichten lassen ahnen, wie er den philosophierenden Dichter verstand. Nun sollen jüngere wie erfahrene Forscher die Möglichkeit bekommen, in Oldenburg an den Quellen von Jaspers´ Werk zu forschen.
FRAGE: Im Dachgeschoss des Hauses gibt es bereits zwei Wohnungen für sogenannte „Jaspers-Fellows“ – die dann beispielsweise an Vortragsabenden ihre Forschungen der Öffentlichkeit vorstellen?
BORMUTH: So ist es von der gerade gegründeten Jaspers-Gesellschaft gedacht. Wir hoffen, die notwendigen Mittel durch Spenden einwerben zu können. Grundsätzlich möchten wir im Jaspers-Haus das Gespräch über Fragestellungen anregen, die an Jaspers orientiert zwischen den Disziplinen liegen und die auch für das weitere Publikum von Interesse sind. Dazu müssen wir Formate entwickeln, die sachlich verständlich und spannend sind. Auch hier steht Jaspers Pate: Er selbst hat so klar und anregend gedacht, dass sogar Funk und Fernsehen auf ihn zukamen.
FRAGE: Wie wollen Sie das erreichen?
„Fundierte Querdenker einladen.”
BORMUTH: Nun, wir möchten mit der Zeit Vorträge, Tagungen und Publikationen bieten, die den Dialog der Wissenschaften in die Öffentlichkeit tragen. Gemeinsam mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach überlegen wir: Wie kann man im Vorraum der Bibliothek die Besucher, vor allem Schüler- und Studentengruppen, möglichst interaktiv an die Bücher und Biographie von Jaspers heranführen? Was die Vortragsabende angeht, so ist geplant, fundierte Querdenker einzuladen, Schriftsteller, Wissenschaftler oder Essayisten, die der Gesellschaft etwas unzeitgemäß Gehaltvolles und Provozierendes zu sagen haben – nicht selten, weil sich ihr Blick über Disziplingrenzen hinaus erstreckt.
FRAGE: Wie sind Sie auf Jaspers gestoßen?
BORMUTH: Entscheidend war nach den ersten Lektüren der Besuch bei Jaspers´ letztem Assistenten, Hans Saner, der mich in Basel inmitten der Bücher seines Lehrers empfing. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, zwanzig Jahre später so privilegiert zu sein, mit der Bibliothek in Oldenburg als Forscher täglich umgehen zu dürfen. Sie hat für meinen eigenen Weg zwischen Medizin und Philosophie eine besondere Bedeutung.
FRAGE: Inwiefern?
„Was passiert, wenn wir denken?”
BORMUTH: Hannah Arendt, die philosophische Schülerin von Jaspers, fragt in einem Essay, was passiert, wenn wir denken, und wo wir uns dabei befinden. Die Bibliothek kann diesen imaginären Raum andeuten, ihn gleichsam materialisieren, zumal in so schönen Räumlichkeiten. Jaspers sah sich selbst im ständigen Dialog mit den großen Philosophen und ihren Ideen, von Platon über Augustin bis hin zu Kant und Hegel. Er verstand sich als Denker, der auf die Zeit einwirkt, aber ihr nicht allein zugehört. Und zugleich offenbart seine Bibliothek, wie sehr Jaspers die aktuellen Wahrheiten schätzte, die er in einer enormen Vielfalt von empirischen Wissensgebieten wahrnahm. Die überzeitliche „Kommunikation“ mit den großen Philosophen zu suchen und zugleich mit den Wissenschaften im Austausch zu sein: das waren seine Maximen als kreativer Leser.
FRAGE: Was ist aus Ihrer Sicht das Vermächtnis von Jaspers?
BORMUTH: Wie bei jedem Denker gibt es bei Jaspers gedankliche Momente, die den Test der Zeit nicht bestehen. Und solche Theoreme, die uns andauernd herausfordern und nachdenklich halten. Besonders fasziniert mich seine an Kant orientierte Idee der Freiheit, die es so gut als möglich zu verwirklichen gilt. Dies wird in seinem Umgang mit der Lungenkrankheit deutlich, die ihm eine praktische Tätigkeit verwehrte. Jaspers verlegte sich auf das „innere Handeln“ des Philosophen und trotzte dem Körper ein langes theoretisches Leben ab. So wurde er noch im achten und neunten Lebensjahrzehnt zu einem der meist diskutierten politischen Philosophen der Bundesrepublik, der über Hannah Arendt auch in den USA bekannt wurde. Jaspers verließ seine Baseler Wohnung kaum mehr, aber seine Gedanken gingen für ihn um die Welt.
FRAGE: Seine körperliche Krankheit hatte einen philosophischen Nutzen?
„Jaspers führte ein abgeschirmtes Leben des Gedankens.”
BORMUTH: Genau. Begonnen hatte seine berufliche Marginalität in der Psychiatrie, als seine Krankheit Jaspers nur wenige Möglichkeiten im täglichen Klinikleben ließ, aber ihm Zeit für Nachdenken und Gespräche mit Patienten und Büchern schenkte. Durch die Krankheit war er genötigt, die Rolle des engagierten Beobachters einzunehmen, von dessen Einsichten die Psychiatrie seitdem profitiert. Auch in der Philosophie führte er aufgrund der körperlichen Grenzsituation ein abgeschirmtes Leben des Gedankens. Jaspers bezeichnete sich selbst als „Outsider“, der unter den philosophischen Fachgenossen „Narrenfreiheit“ genoss. Bis man merkte, dass er aus der Psychiatrie existentielle Fragen mit ins Fach gebracht hatte, die ein neues Nachdenken über den Menschen und seine mögliche Freiheit auslösten.
FRAGE: Und was hat sie daran fasziniert?
BORMUTH: Dass sich Jaspers im Namen möglicher Freiheit gegen sachliche Reduktionismen und schulische Dogmen wandte. Philosophen sollen nach Jaspers unbequeme Zeitgenossen sein, die uns im Sinne des Sokrates die Grenzen des Wissens vor Augen führen. Nicht zufällig fiel der junge Jaspers im Alten Gymnasium dadurch auf, dass er sich weigerte, einer Schüler-Verbindung beizutreten. Er stand lieber als Individuum für sich, mit Abstand zu den kollektiven Meinungsbildern. Es kann noch heute anregen, selbst für Momente innezuhalten und zu fragen, was wir eigentlich tun, welchen Sinn unser Handeln hat und wohin es uns führen soll.
Das ungekürzte Interview mit Matthias Bormuth lesen Sie in der kommenden Ausgabe des Forschungsmagazins EINBLICKE (erscheint im Mai).