Die Artenvielfalt in den Meeren erforschen und daraus praktikable Konzepte für den Naturschutz entwickeln – dies ist die Herausforderung, der sich die Wissenschaftler im neu gegründeten Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität stellen wollen. Wie dies gelingen kann, darüber spricht der Biodiversitätsexperte Helmut Hillebrand im Interview.
FRAGE: Herr Hillebrand, Sie betreiben seit Langem ökologische Grundlagenforschung, das heißt sie untersuchen, wie Ökosysteme strukturiert sind, wie Arten zusammenleben. Ihr Schwerpunkt ist die Biodiversität in den Meeren. Welches sind für Sie die wichtigsten Herausforderungen auf diesem Gebiet, das – wie der Klimawandel – längst Teil einer öffentlichen und politischen Debatte ist?
HILLEBRAND: Eine der zentralen Fragen für mich ist: Welche Konsequenzen hat es eigentlich, wenn sich die biologische Vielfalt ändert? In der Forschung galt biologische Vielfalt lange als Antwortvariable: Wenn sich das System ändert, verändert sich auch die biologische Vielfalt. Vor 25 Jahren ungefähr kamen die ersten Studien, die gezeigt haben: Das ist nur die eine Seite. Denn eine Veränderung der biologischen Vielfalt bringt immer auch eine Veränderung des Systems mit sich. Ändert sich zum Beispiel die biologische Vielfalt in einem Meeresgebiet, finden dort auch andere Prozesse statt. Die Rate, mit der Sauerstoff produziert wird durch pflanzliche Vertreter ist eine andere, wenn sich die Vielfalt dieser Organismen verändert. Das ist auch für den Menschen wichtig. Wir hängen mit unserem Ressourcenbedarf und unserem Leben davon ab, dass Meeresalgen Sauerstoff produzieren, wir Fischfang betreiben können. Dieser Bezug zum Menschen wird oft als Endglied einer mehr oder weniger linearen Wirkungskette von globalem Wandel, zu Biodiversitätswandel, zu funktionellen Veränderungen und dann zur menschlichen Gesellschaft dargestellt.
FRAGE: Und diese Vorstellung teilen Sie nicht?
HILLEBRAND: Mir ist in den letzten Jahren immer klarer geworden, dass diese letzte Brücke zwischen funktionellem Wandel des Systems und der menschlichen Gesellschaft sehr stark aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive als Ursache-Wirkung aufgeschrieben wurde. In Wirklichkeit definiert aber die Gesellschaft, was sie will. Die Gesellschaft setzt einen Rahmen, was geschützt werden soll, was genutzt werden soll, in welcher Weise das Meer ein wichtiges System für den Menschen ist. Das aber ist etwas, was nicht die Naturwissenschaften alleine erforschen können, sondern nur mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen. Wir können also den Status der biologischen Vielfalt im Meer und die Änderungen nur interdisziplinär untersuchen.
Den gesellschaftlichen Kontext herstellen
FRAGE: Welche anderen Herausforderungen sehen Sie?
HILLEBRAND: Vieles von dem, was in der Grundlagenforschung Stand des Wissens ist, mündet nur sehr langsam in Handlungsempfehlungen. Das ist teilweise der Tatsache geschuldet, dass die Ergebnisse der Grundlagenforschung in spezialisierten Zeitschriften erscheinen: Denn diejenigen, die im praktischen Naturschutz arbeiten, können auf diese Information teilweise gar nicht zugreifen – und haben auch einen anderen Bedarf. Um das zu verbessern, muss man Konzepte entwickeln und Handlungsempfehlungen geben.
FRAGE: Wie wollen Sie diesem Problem begegnen?
HILLEBRAND: In unserem neuen Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität betreiben wir nicht nur Grundlagenforschung, um beispielsweise zu quantifizieren, wie stark sich die biologische Vielfalt verändert. Wir wollen daraus auch Schutzkonzepte ableiten. Diese Konzepte sollen aber nicht nur naturwissenschaftlich begründet sein, sondern wir wollen auch den gesellschaftlichen Kontext herstellen. Wir wollen klären, welche Themen an solche Schutzkonzepte überhaupt herangetragen werden. Wir wollen versuchen, diese Kluft, die nach unserer Meinung existiert zwischen Grundlagenforschung und dem Management von Ökosystemen, zumindest kleiner zu machen.
FRAGE: Sie sprachen davon, dass Sie Veränderungen der biologischen Vielfalt überhaupt besser quantifizieren wollen. Wo hakt es da in der Praxis?
HILLEBRAND: Momentan sind die Herangehensweisen oft sehr vereinfachend. Ein Maß ist zum Beispiel die Artenzahl: Man zählt einfach, wie viele verschiedene Arten es in einer Organismengruppe gibt, zum Beispiel wie viele verschiedene Fischarten. Dann schaut man sich an, wie sich diese Zahl über die Zeit verändert. Die Annahme dahinter ist: Wenn sich das System positiv entwickelt, sich von einem menschlichen Eingriff erholt oder unter Schutz gestellt wird, steigt die Artenzahl. Wenn aber beispielsweise ein stärkerer menschlicher Eingriff stattfindet, dann entwickelt sich auch die Artenzahl negativ über die Zeit. Das hat im Umkehrschluss zu der Annahme geführt, dass es dem System nicht schlecht geht, wenn sich die Artenzahl nicht negativ entwickelt.
Die Artenzahl - ein falscher Freund
FRAGE: Und das ist nicht richtig?
HILLEBRAND: Nein. Die Grunderwartung, dass ein negativer Einfluss auch zu einer negativen Entwicklung der Artenzahlen führt, ist nicht korrekt. Dies zeigen wir in einer neuen Studie, in der wir das Gleichgewicht zwischen Einwanderung und Aussterben von Arten betrachten. Denn beides funktioniert nicht gleich schnell. Einwandern geht oft schnell, Aussterben dauert oft lange. Das heißt, ob über einen langen Zeitraum mehr oder weniger Arten in einem System verbleiben, kann man anhand kurzfristiger Trends gar nicht aussagen.
FRAGE: Was bedeutet dies konkret für die Praxis?
HILLEBRAND: Die reine Beobachtung der Artenzahl oder eines anderen einfachen Indexes, erlaubt einem eben nicht, den Zustand eines Systems zu beschreiben. Aber genau solche Zustandsbeschreibungen sind ein integraler Bestandteil in vielen Richtlinien, wie zum Beispiel der europäischen Meeresstrategie-Rahmenrichtlinien. Die Behörden und auch die außerbehördlichen Vertreter des Naturschutzes benötigen also ein Werkzeug, mit dem sie Veränderungen der Biodiversität besser beschreiben können.
FRAGE: Fordert denn die Rahmenrichtlinie nur, nach der Artenzahl zu gucken und nicht danach, welche Arten es gibt?
HILLEBRAND: Die Rahmenrichtlinie ist sogar noch breiter. Sie sagt, die beschreibende Variable des Zustands ist die Biodiversität. Es wird nicht definiert, was gemacht wird. Da bietet sich die Artenzahl als einfaches Maß an. Wir wollen aber bewusst machen, dass die Artenzahl ein falscher Freund sein kann: Sie liefert Informationen, die die Veränderungen des Systems nicht widerspiegeln. Aber mit denselben Daten als Grundlage gibt es Wege, viel mehr Informationen zu bekommen über die Veränderungen der biologischen Vielfalt.
FRAGE: Wie können Sie diese Erkenntnisse praktisch umsetzen?
HILLEBRAND: In diesem Fall veröffentlichen wir unsere Ergebnisse konkret in einer Zeitschrift aus der auch viele im Anwendungsbezug arbeitende Kolleginnen und Kollegen ihre Informationen erhalten. Wir fokussieren explizit auf Monitoring, also die Umweltüberwachung, und Assessments, also die Beurteilung von Ökosystemen. Wir hoffen, damit etwas zu erreichen. Wir planen auch Ende dieses Jahres einen Workshop für Landes- und Bundesbehörden und für außerbehördliche Naturschützer im marinen Bereich. Wir müssen langfristig eine Interaktionsplattform schaffen, um die Grundlagenforschung und die Bedürfnisse des praktischen Naturschutzes zusammenzubringen.
Gegenseitiges Verständnis
FRAGE: Wie kann man denn den Transfer aus der Forschung in die Praxis beschleunigen?
HILLEBRAND: Das klingt jetzt so nach dem Motto: Hier ist die tolle Grundlagenforschung, die in sich konsistent ist, aber keiner beachtet sie. Das ist, glaube ich, nicht ganz richtig. Es gibt politische Vorgaben, die die Umweltüberwachung und die Bewertung von Ökosystemen begründen. Die Behörden versuchen, diesem Bedarf möglichst nahe zu kommen. Auf der anderen Seite gibt es die Grundlagenforschung mit vergleichsweise spezialisierten Resultaten, die spezialisiert veröffentlicht werden. Damit geht man auch von Seiten der Grundlagenforschung bewusst das Risiko ein, dass diese Informationen gar nicht ankommen bei den Personen, die – mit einem ganz anderen Korsett ausgestattet – versuchen, die besten Bewertungskriterien, die es gibt, anzuwenden. Ich glaube, dass es eines längerfristigen Dialogs bedarf, um dieses gegenseitige Verständnis aufzubringen.
FRAGE: Es geht also auch um Gegenseitigkeit.
HILLEBRAND: Genau. Natürlich sind auf der Handlungsebene weder die finanziellen Mittel noch die Expertise vorhanden, um zum Beispiel komplexe Vorhersagemodelle oder neue Technologien zu entwickeln, um Ökosysteme zu überwachen. Das muss aus der Grundlagenforschung kommen. Ein Beispiel, wie wir unsere Datenlage so verbessern können, sind molekulare Observatorien mit denen wir an mehr Stellen kontinuierlich die biologische Vielfalt anschauen können. Das ist eine klare Aufgabe der Grundlagenforschung. Und trotzdem wollen wir den Kontakt zu den Anwendern halten. Es macht ja auch keinen Sinn, etwas zu entwickeln, was nachher gar nicht gebraucht wird. Das ist der Anspruch, den wir mit dem Helmholtz-Institut versuchen möchten zu stärken.
Interview: Constanze Böttcher