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Prof. Dr. Dietmar von Reeken
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dietmar.von.reeken@uni-oldenburg.de Jun.-Prof. Dr Malte Thießen
Institut für Geschichte
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  • Historiografie vor Ort: „Welche Geschichtsbilder kursieren in kleinen Gemeinden und Gemeinschaften?“ Foto: Dominik Schwarz / photocase.com

Die NS-Geschichte im Dorf lassen

Forscher untersuchen das lange vernachlässigte Phänomen der Ortschroniken – und möchten so einen neuen Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus werfen. Ein Interview mit den beiden Projektleitern Dietmar von Reeken und Malte Thießen.

Forscher untersuchen das lange vernachlässigte Phänomen der Ortschroniken – und möchten so einen neuen Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus werfen. Ein Interview mit den beiden Projektleitern Dietmar von Reeken und Malte Thießen.

FRAGE: Warum nehmen Sie sich ausgerechnet Ortschroniken an?

THIESSEN: Wir möchten einen neuen Fokus auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus werfen. Indem wir zum Beispiel auf die Auseinandersetzung „vor Ort“ blicken. Denn bislang hat die Forschung vor allem auf nationaler und regionaler Ebene nach der „Vergangenheitsbewältigung“ beziehungsweise Geschichtskultur des Nationalsozialismus gefragt.

FRAGE: Was wird demgegenüber in den Ortschroniken nachvollziehbar?

VON REEKEN: Zum Beispiel, welche Geschichtsbilder und -vorstellungen in kleinen Gemeinden und Gemeinschaften kursieren und wie die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zur Identitätsstiftung kleiner Orte beiträgt – oder diese gefährdet. Außerdem lernen wir etwas über den Umgang mit Geschichte in ländlich geprägten Räumen, die bislang in der Forschung kaum eine Rolle gespielt haben. Hinzu kommt, dass wir Ortschroniken in einer vergleichenden Perspektive untersuchen wollen – aus dem ganzen Bundesgebiet und der DDR, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aufzuzeigen.

FRAGE: Kann denn beispielsweise die Chronik eines kleinen Dorfes Aufschluss über die Geschichte des Nationalsozialismus bringen?

THIESSEN: Gerade der scheinbar banale Bericht eines Dorfes sagt sehr viel aus über die Macht der Geschichte für unsere Gegenwart. Denn hier lässt sich wie unter einem Brennglas die soziale Funktion des Geschichte-Schreibens betrachten: Wer oder was kommt in dem Bericht zu Wort, welche Personen und Ereignisse werden in den Mittelpunkt gestellt, welche verschwiegen? Welche „Lehren“ und Botschaften möchten die Autoren an die Leser der Chronik vermitteln, zum Beispiel um die gegenwärtige Bedeutung des Dorfes oder die aktuelle Bedeutung gemeinsamer Werte zu unterstreichen?
 
FRAGE: In den 1970er Jahren hat das Genre der Ortschroniken einen regelrechten Boom erfahren. Womit erklären Sie sich das?

VON REEKEN: Dieser Boom hat verschiedene Wurzeln, wir werden sie im Projekt genauer erkunden. Da wäre zum einen der Boom der „Alltagsgeschichte“, machten sich in dieser Zeit doch viele „Barfußhistoriker“ auf, die Geschichte ihres Ortes oder Stadtteils zu untersuchen. Zum anderen wäre zu fragen, inwiefern der tiefgreifende gesellschaftliche Strukturwandel in dieser Zeit das Bedürfnis nach Identitätsstiftung unter anderem in ländlichen Regionen erhöhte: Möglicherweise waren Ortschroniken der Versuch, durch historische Bezüge ein wenig Ordnung in die turbulente Gegenwart zu bringen.

FRAGE: Nehmen Sie dabei die Entstehungsgeschichte der Ortschroniken selbst auch in den Blick?

THIESSEN: Ja, wir möchten genauer hinsehen, ob der Boom in den 1970er Jahren nicht noch ganz andere Ursachen hat. Wir spüren daher auch möglichen Vorläufern von Ortschroniken in der Heimatbewegung nach.

FRAGE: Das Feld der Ortschroniken ist unübersehbar vielfältig. Nach welchen Kriterien grenzen Sie ein?
 
THIESSEN: Wir analysieren zunächst systematisch Ortschroniken in Niedersachsen. Auf dieser Basis nehmen wir dann gezielt weitere deutsche Regionen in den Blick nehmen. Anschließend werden wir mehrere ausgewählte Fallstudien vertiefend untersuchen, hier geht es uns bei vor allem um die Entstehung der Chroniken vor Ort und im Alltag, also um die  soziale Praxis.

FRAGE: Spielten Ortschroniken in der Geschichtsforschung über den Nationalsozialismus bislang eine Rolle?

VON REEKEN: Bestenfalls am Rande einzelner Studien. Wir stoßen also in eine Forschungslücke – und verstehen unser Projekt auch als eine Pionierstudie und als ein Plädoyer, der NS-Auseinandersetzung „vor Ort“ größere Aufmerksamkeit zu schenken. Bisherige Untersuchungen, sagen wir beispielsweise die Analyse von Ansprachen von Bundespräsidenten oder bekannter Denkmäler und Gedenkstätten, können wenig darüber aussagen, was von der NS-Auseinandersetzung „unten“ überhaupt ankommt – und wie im Kleinen die NS-Geschichte gedeutet wird.


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INFORMATIONEN ZUM PROJEKT
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„Die Geschichte im Dorf lassen – Nationalsozialismus in deutschen Ortschroniken“ ist ein auf zwei Jahre angelegtes Forschungsprojekt der Arbeitsstelle Regionale Geschichtskulturen. Kooperationspartner sind unter anderem die Universitäten Göttingen und Hannover, die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, das Institut für Zeit- und Regionalgeschichte Schleswig sowie die Stiftung Niedersächsischer Gedenkstätten. Förderer: Forschungsprogramm PRO* Niedersachsen des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur.

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