Das Ergebnis einer medizinischen Behandlung hängt nicht allein vom Können der Ärzte ab, sondern auch davon, wie ihr Arbeitsumfeld organisiert ist. Mit diesem Faktor beschäftigt sich die Oldenburger Versorgungsforscherin Lena Ansmann.
Am 13. Dezember 1973 erschien eine Studie im Wissenschaftsmagazin Science, die erhebliche Sprengkraft in sich trug. Unter dem Titel „Small Area Variations in Health Care Delivery“ übersetzt etwa: „Kleinräumige Unterschiede in der Gesundheitsversorgung“) stellten US-Epidemiologen Erstaunliches fest: In einem Bezirk im Bundesstaat Vermont im Osten der USA wurden 15 Prozent aller Kinder bis zum Alter von 15 Jahren die Mandeln entfernt, im Nachbarbezirk waren es viermal so viele. Auch bei anderen Operationen, bei der Zahl der Krankenhaustage pro Kopf und bei den Kosten für Krankenhausaufenthalte zeigten sich auffallende Unterschiede. Anscheinend wurde umso mehr operiert, je mehr Krankenhausbetten es im jeweiligen Bezirk gab.
Dieses Ergebnis warf einige gängige Vorstellungen über die medizinische Versorgung über den Haufen: etwa, dass Ärzte ihre Entscheidungen ausschließlich am Stand des Wissens und am Wohl des Patienten ausrichten. Eine Schlussfolgerung aus der Studie lautete: Manche Unterschiede in der Gesundheitsversorgung lassen sich nicht medizinisch erklären, sondern beruhen offenbar auf anderen Faktoren. Zum Beispiel darauf, dass Krankenhäuser unterschiedlich organisiert sind.
Erst in den letzten Jahren sind diese organisationsbedingten Unterschiede verstärkt in den Blickpunkt der Forschung gerückt. Denn es gibt nach wie vor teils drastische regionale Variationen bei der Häufigkeit bestimmter Operationen – und es bleibt unklar, wodurch solche und ähnliche Besonderheiten verursacht werden. „Auch die Komplikationsrate oder die Sterblichkeit nach einer bestimmten OP können von Krankenhaus zu Krankenhaus variieren“, sagt Prof. Dr. Lena Ansmann vom Department für Versorgungsforschung der Universität Oldenburg. Die Wissenschaftlerin zählt zu den wenigen Forschern in Deutschland, die systematisch untersuchen, wie sich Unterschiede zwischen Organisationen auf die Patientenversorgung auswirken.
„Wir möchten die Forschungsaktivitäten intensivieren.“
Ansmanns Professur für Organisationsbezogene Versorgungsforschung wurde im November 2017 geschaffen und ist bundesweit die erste, die sich explizit dieser Materie widmet. „Genau genommen handelt es sich um eine Kombination aus Organisationsforschung und Versorgungsforschung“, erklärt die Wissenschaftlerin. Während Versorgungsforscher zum Beispiel untersuchen, wie sich verschiedene Behandlungsmethoden auf die Lebensqualität der Patienten auswirken oder welche Ursachen medizinische Fehler haben, blicken Organisationsforscher aus sozialwissenschaftlicher Perspektive auf Merkmale einer Organisation – etwa Führungskultur, Veränderungsbereitschaft oder auch den Spezialisierungsgrad. „Wir untersuchen dann, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen und dem Ergebnis beim Patienten gibt, also wie gut die Patienten in einer Einrichtung versorgt werden“, erläutert Ansmann.
Besonders interessiert sich die Expertin für das Miteinander der Menschen innerhalb einer Organisation. Teilweise reichen ihre Forschungsprojekte in die Heilpädagogik und die soziale Arbeit hinein. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die onkologische Versorgung. In der von der Deutschen Krebshilfe geförderten Studie PINTU (Patient involvement in multidisciplinary tumor conferences in breast cancer care) etwa, die Ansmann zusammen mit ihrer Kollegin Nicole Ernstmann von der Universitätsklinik Bonn leitet, stehen sogenannte Tumorkonferenzen im Mittelpunkt.
Das sind Fallbesprechungen, bei denen zumeist Ärzte unterschiedlicher Fachrichtung vor oder nach einer Krebsoperation über die Prognose und die weitere Behandlung eines Patienten diskutieren – etwa, ob eine Bestrahlung oder eine Chemotherapie nötig ist. Normalerweise sind die Experten dabei unter sich, doch in einigen wenigen auf Brustkrebs spezialisierten Krankenhäusern nehmen die Patientinnen an den Tumorkonferenzen teil. „Wir wissen bislang aber nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagt Ansmann. Schließlich unterhielten sich die Ärzte meist in Fachsprache, was die oft sehr nervösen Patientinnen zusätzlich beunruhigen oder überfordern könnte. Ob es für die Ärzte praktikabel ist, die Patientinnen zu beteiligen, sei ebenfalls unklar. Für eine Beteiligung der Patientinnen spreche, dass sie so genauer über das Für und Wider aller Optionen informiert würden und besser entscheiden könnten, welche Therapie für sie angemessen ist.
Wie geht es Patientinnen, die an Tumorkonferenzen teilnehmen?
Um offene Fragen wie diese zu untersuchen, haben Ansmann und ihre Kollegen Ärzte in verschiedenen Brustzentren interviewt. Sie wollen herausfinden, welche Vor- und Nachteile die Mediziner sehen und wie sie die Patientinnen konkret in die Gespräche einbinden. „Es gibt Ärzte, die sagen: Das ist eine super Idee, das sollte man überall so machen, die Patientinnen sind total zufrieden damit“, berichtet Ansmann. Andere sähen eher die Nachteile – etwa, dass weniger offen diskutiert werden könne oder sich die Tumorkonferenzen unnötig in die Länge zögen. „Wenn wir das mit Klinikern diskutieren, ist das immer recht kontrovers, was ich sehr spannend finde“, sagt die Forscherin. Im nächsten Schritt wird Ansmann mit ihrem Team Patientinnen vor und nach den Konferenzen interviewen und Videoaufnahmen auswerten. So wollen sie ermitteln, wie sich die Patientinnen in den Tumorkonferenzen verhalten und wie es ihnen danach geht.
In ihrem neuen Forschungsfeld engagiert sich Ansmann dafür, Wissenschaftler mit ähnlichem Schwerpunkt zusammenzubringen und zu vernetzen. Im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung (DNV) leitet sie die Arbeitsgruppe „Organisationsbezogene Versorgungsforschung“ und hat so in den vergangenen zwei Jahren daran mitgewirkt, Standards für Methoden zu überarbeiten, die für ihr Fachgebiet wichtig sind. Ein Memorandum mit den Ergebnissen erscheint demnächst.
„Wir möchten dieses neue Feld weiter etablieren und die Forschungsaktivitäten intensivieren“, sagt Ansmann. Sie ist daher auch am Projekt NWOB („Organisationales Verhalten in Einrichtungen der Gesundheitsversorgung in Deutschland“) beteiligt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird: In einem Buch geben 20 Forscher aus verschiedenen Fachbereichen – von der Allgemeinmedizin bis zur Volkswirtschaft – einen systematischen Überblick über den Stand der organisationsbezogenen Versorgungsforschung in Deutschland.