Vor 50 Jahren starb der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno. Der Oldenburger Soziologe Stefan Müller-Dohm, Adorno-Biograf und Gründer der Adorno-Forschungsstelle an der Universität Oldenburg, blickt auf das Werk des Intellektuellen.
Am 6. August jährt sich zum fünfzigsten Mal der Tag, an dem der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno völlig überraschend während seines Urlaubs in den Schweizer Bergen am Fuße des Matterhorns verstorben ist. Dieses Ereignis hatte damals einen hohen Nachrichtenwert. Die internationale Presse überbot sich mit Würdigungen. Rundfunk und Fernsehen brachten zahlreiche Dokumentationen über das wechselvolle Leben und Wirken des 1903 geborenen Denkers. Er hat sich aller Übel der Welt, einschließlich des Todes („eine Schande des Menschen“), mit den Mitteln kritischer Reflexion zu stellen versucht, dabei stets die einzelwissenschaftlichen Fachgrenzen überschreitend.
Zwar eilt ihm der Ruf voraus, generell ein komplizierter, eben ein dialektischer Denker bestimmter Negation zu sein. Bei dieser Zuschreibung wird indes übersehen, dass sich Adorno nach den 15 Jahren des Exils in England und den USA, wohin er in Folge der Hitlerdiktatur zu fliehen gezwungen war, nach der Remigration im Nachkriegsdeutschland auch mit ganz praktischen Fragen befasst hat. Dazu gehört etwa die Neugestaltung der Politischen Bildung oder die Reform der Lehrerausbildung.
Vorbildintellektueller
Mit dem Ziel einer „Erziehung zur Mündigkeit“ galt einer seiner kritischen Impulse dem heute wieder brisanten Komplex Bildungskrise und Bildungsverfall. Noch zentraler – und damals anstößiger – war seine Forderung nach einer Erziehung, die dem Rechnung trägt, was mit dem Menschheitsverbrechen von Ausschwitz monströses Faktum der Geschichte geworden ist. Über „Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit“ oder über Ursachen des Antisemitismus, über die Gefährdung der jungen Demokratie durch einen wiedererwachten extremen Rechtsradikalismus konnte man den publizistisch höchst engagierten Zeitkritiker, dessen artikulierte Sprache und prägnante Stimme einen hohen Widererkennungswert hatte, fast wöchentlich in den Abendprogrammen des Rundfunks hören – eines der Medien, die er für seine Mission soziologischer Aufklärung extensiv nutzte. Für ihn, der mit dem Satz provoziert hat, ein Gedicht nach Auschwitz sei barbarisch, war die Vergangenheit erst dann aufgearbeitet, wenn die in der Gesellschaft angelegten Ursachen des Vergangenen beseitigt seien: Zu diesen gehört an erster Stelle die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber undurchsichtigen übermächtigen Tendenzen des gesellschaftlichen Ganzen.
In der Rolle des öffentlichen Intellektuellen riskierte es Adorno, ähnlich wie Hannah Arendt und Karl Jaspers, den Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft zu verlassen, um die tabuisierten Themen im Land der Täter aufzugreifen. Diese Einflussnahme auf die Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahre ist aber nicht der hauptsächliche Grund für seine Aktualität 50 Jahre nach seinem Tod. Dass Adornos gesellschaftstheoretische Denkweise nicht verstaubt ist, stellen nicht nur die vielen Wiederauflagen seines populärsten Buches, der Aphorismensammlung zum ‚beschädigten Leben‘ mit dem Titel „Minima Moralia“, unter Beweis, sondern auch die jährlichen Tagungen und Konferenzen, in deren Mittelpunkt das von Adorno reflektierte Spannungsverhältnis von Negativismus und einer Ethik des richtigen Lebens steht.
Wiederentdeckter Autoritarismus
Genau im Monat des Todestages erscheint eine zwar nicht unbekannte, aber bislang unveröffentlichte Schrift über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“, ein ursprünglich 1967 in Wien gehaltener Vortrag, jetzt versehen mit einem instruktiven Nachwort des Historikers Volker Weiß. In diesem Vortrag analysiert Adorno Erscheinungen des Rechtradikalismus, die er als „Gespenst eines Gespensts“ bezeichnet, durchaus übertragbar auf heutige Varianten des rechten Populismus, für den Adornos Formel eines Zusammenspiels von ‚Wahnsystem und technologischer Perfektion‘ in der Tat zutreffend zu sein scheint.
Ebenso bemerkenswert ist die gegenwärtige Debatte, die in den USA von dem Harvard-Historiker Peter E. Gordon ausgelöst wurde. Er hat als Herausgeber der neuesten Ausgabe des ursprünglich von Adorno herausgegebenen Buchs „Authoritarian Personality“ die Frage aufgeworfen, inwieweit Adornos soziologische Forschungen über die autoritäre Persönlichkeit ein brisantes Deutungspotential enthalten, das den Erfolg von Donald Trump zu erklären beiträgt. Dessen Wählern wird eine Neigung zum Autoritarismus attestiert, der einhergeht mit stereotypem Denken, der Diffamierung von Fremden und Minderheiten – alles paranoide Züge, die Adorno in seiner Studie aus den späten 40er Jahren als autoritäres Reaktionsmuster festgestellt hat.
Soziologische Erklärung
Der amerikanische Historiker macht sich für Adornos Deutung stark, dass sich der autoritäre Charakter nicht in erster Linie psychologisch erklären lässt. Vielmehr sei das Syndrom das Produkt einer Verinnerlichung von Erfahrungen der Instrumentalisierung und Fremdsteuerung des Menschen in der modernen Gesellschaft, Erfahrungen, die zur Schwächung des Individuums beitragen. Diese spezifische soziologische Sichtweise hat Adorno damals argumentativ besonders akzentuiert in den jetzt gleichfalls erstmals vorliegenden, seinerzeit in der Studie nicht veröffentlichten „Remarks on the Authoritarian Personality“ herausgearbeitet, die die Soziologin Eva-Maria Ziege aus gegebenem Anlass erstmals übersetzt und in einem Band mit einem leserfreundlichen Vor- und Nachwort zugänglich gemacht hat.
Für Gordon ist der Trumpismus Ergebnis pathologischer Entwicklungen in Gesellschaft und Politik. Dazu zählt er auch ausdrücklich den Rückgang des seriösen Journalismus, der von demagogischer Meinungsmache und Entertainment verdrängt werde. Natürlich vermochte Adorno die gegenwärtigen Verfallserscheinungen im Bereich von Öffentlichkeit und Kommunikation, insbesondere in den sozialen Medien, nicht vorauszusehen. Aber seine Forschungen zum sogenannten klischeehaften „Ticket-Denken“ und seine Analysen zur Allgegenwart der „Kulturindustrie“ tragen dazu bei, uns für das „Unwahre“ zu sensibilisieren. Diese Sensibilisierung ist Adorno zufolge eine Voraussetzung dafür, ein Bewusstsein für das zu entwickeln, was ihm als das richtige Leben vorschwebte.
Gastbeitrag: Prof. Dr. Stephan Müller-Doohm