Studierende aus aller Welt erhalten eine fundierte Ausbildung in Methodik und Theorie von Migrationsforschung und interkulturellen Beziehungen. Insgesamt bereisen sie für ihr Studium und erforderliche Praktika in nur zwei Jahren bis zu fünf verschiedene Länder und machen dabei auch selbst ganz praktische Migrationserfahrungen. Jetzt hat die Universität Oldenburg die zehnte Kohorte („Edition“) des ERASMUS-MUNDUS-Studiengangs „Master in Migration and Intercultural Relations“ (EMMIR) verabschiedet.
Traditionell beginnt und endet für die Teilnehmenden in der Huntestadt ihre ungewöhnliche Studienzeit. Seit Beginn an koordiniert die Politikwissenschaftlerin Dr. Lydia Potts für die Universität Oldenburg den afrikanisch-europäisch-asiatischen Masterstudiengang. Im Interview spricht sie über seine Besonderheiten.
Mit den 27 aktuellen Absolventinnen und Absolventen aus 21 Ländern steigt die Zahl der EMMIR-Graduierten auf insgesamt 248. Was ist Ihrer Meinung nach die eine Erkenntnis oder Erfahrung, die alle nach dieser Zeit verbindet?
Lydia Potts: Es gibt tatsächlich so etwas wie einen „EMMIR-Spirit“, der aus der Diversität der Studierenden und Lehrenden erwächst. Es ist immer eine besondere Gemeinschaft, die da in sehr kurzer Zeit entsteht. Verschiedene Kulturen, Nationalitäten und unterschiedliche Spezialisierungen: Im Rahmen von EMMIR kommt vieles zusammen und zwar – das ist wichtig – immer auf Augenhöhe mit allen Beteiligten. Studierende erhalten so eine sehr multiple Perspektive auf das Thema Migration.
Nach den ersten neun Kohorten gab es zunächst keine weitere Förderung. Die Europäische Union hat Folgeanträge sogar zwei Mal abgelehnt. Warum gibt es den Studiengang trotzdem noch?
Potts: EU-finanzierte Studiengänge haben eigentlich immer das Ziel, von der Unterstützung aus Brüssel unabhängig zu werden, und das haben auch wir versucht. Bei EMMIR gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Wir brauchen die finanzielle Unterstützung insbesondere dafür, Studierende ohne finanzielle Möglichkeiten mit Stipendien zu versorgen und ihnen so eine Teilnahme zu ermöglichen. Das betrifft insbesondere diejenigen aus dem globalen Süden. Ohne ihre Beteiligung würde die für EMMIR so wichtige Diversität fehlen. Wir sind deshalb froh, dass wir die EU letztlich mit dem, was wir zu bieten haben, überzeugen konnten. Sie fördert aktuell vier Editionen bis 2027.
Das Programm bringt jedes Jahr eine sehr internationale Gruppe an die Universität, die gemeinsam eine Stadt erkundet, von der sie zuvor vermutlich noch nie gehört hat. Wie reagieren die Studierenden auf Oldenburg?
Potts: Viele lieben Oldenburg, EMMIR-intern auch O-Town genannt. Fahrradfahren ist natürlich eines der Themen, das für Gesprächsstoff sorgt, insbesondere, wenn die ausländischen Studierenden sehen, dass auch Profs in Oldenburg mit dem Fahrrad zur Uni kommen. Dass in Oldenburg manches etwas kleiner ist, zum Beispiel das Schloss, sorgt gelegentlich für Überraschungen – entweder, weil die Studierenden selbst aus deutlich größeren Städten kommen oder weil sie ein europäisches Schloss deutlich größer erwartet hätten. (lacht) Oft gibt es deshalb auch eine Gruppe, die sich während ihres Aufenthalts eher in Richtung des etwas größeren Bremens orientiert. Dass aber auch dieses Jahr wieder 23 der 27 Absolventinnen und Absolventen nach Oldenburg reisen, um ihren Abschluss zu feiern, sagt sicher auch etwas über ihr Verhältnis zur Stadt aus.
EMMIR soll das Verständnis der Kulturen von- und füreinander fördern. Gleichzeitig sind in den vergangenen Jahren weltweit zahlreiche Konflikte neu entbrannt. Welchen Einfluss hat das auf den Studiengang und seine Studierenden?
Potts: Viele der globalen Konflikte sind in den EMMIR-Editionen unmittelbar präsent, schließlich haben wir Studierende etwa aus Afghanistan, Syrien, Äthiopien und dem Libanon. Für sie bedeuten die Konflikte in ihren Herkunftsländern natürlich Belastungen, wenn Angehörige rekrutiert, vertrieben, verletzt oder sogar getötet werden. Einige Studierende haben auch selbst Fluchterfahrungen. Die unterschiedlichen, teils sehr persönlichen Perspektiven fließen in Lehrveranstaltungen mit ein und sind auch außerhalb von Seminaren und Vorlesungen Thema. Das heißt: Es wird darüber gesprochen und durchaus auch mal gestritten. Weil aber jede EMMIR-Edition zu einer Gemeinschaft zusammenwächst, gibt es gleichzeitig immer eine produktive Verständigung auch über strittige Themen. Ich finde, das gibt durchaus auch Hoffnung für den Umgang mit Konflikten in der Welt.
Eine besondere Situation haben wir seit eineinhalb Jahren im Sudan. Mit Ausbruch des Kriegs mussten die EMMIR-Studierenden ihre Pläne für Praktika und Studienaufenthalte im Land canceln. Sehr bald ist unsere dortige EMMIR-Partneruniversität wie alle Bildungseinrichtungen im Sudan geschlossen und geplündert worden. Die meisten Lehrenden sind ins Ausland geflohen. Wir freuen uns, dass zwei Vertreterinnen aus dem Sudan jetzt bei der EMMIR-Intensivphase in Oldenburg dabei sein können.
Andersherum hat auch der Studiengang durch seine Absolventinnen und Absolventen inzwischen einen zumindest kleinen Einfluss auf die Welt. Wo sind diese heute beruflich tätig?
Potts: Ein Drittel der Absolventen ist heute in Nichtregierungsorganisationen tätig, darunter zum Beispiel Amnesty International, Plan International oder World Vision. Fast 30 Prozent haben eine akademische Karriere eingeschlagen und an Universitäten weltweit eine Promotion begonnen. Ein Dutzend hat sie bereits abgeschlossen. Ein Absolvent der ersten Edition ist inzwischen Professor in Bangladesch. Ich finde es wichtig, dass die Absolventen nicht alle in Europa bleiben, sondern auch in ihren Heimatländern Karriere machen und ihr Wissen, das sie bei uns erlangt haben, dorthin bringen.
17 Prozent der Absolventen sind heute in internationalen Organisationen wie der Europäischen Union oder den Vereinten Nationen (UN) und ihren Unterorganisationen tätig. Allein bei der International Organization for Migration der UN arbeiten heute zehn „EMMIRians“, und zwar nicht nur in Brüssel, sondern auch in Kenia, Genf und der Türkei. Das ist ein toller Erfolg.
Jeder fünfte Absolvent ist im privaten Sektor, in Behörden oder Regierungsorganisationen tätig.
Was ist der Aspekt an EMMIR, der Sie ganz persönlich antreibt – so dass sie das Programm sogar weiterhin betreuen, obwohl Sie eigentlich schon im vermeintlichen Ruhestand sind?
Potts: In Europa ist die Migrationsforschung sehr politikorientiert. Gefördert wird Forschung zu Arbeitsmarktfragen, Migrationspolitik und Flüchtlingsmanagement – und letztlich geht es immer um die Frage, was wir in Deutschland oder Dänemark oder Frankreich jetzt tun sollten. Forschung findet daher häufig im nationalen Kontext statt. Das ist aber nur eine Perspektive. Ich finde, die Wissenschaft sollte sich nicht darauf beschränken, sondern auch die globalen Fragen in den Blick nehmen. EMMIR vermittelt den Teilnehmenden die Grundlagen für eine Migrationsforschung, die auch für diese Perspektiven offen ist – und das ist möglich, weil sich im Programm von Anfang an der globale Norden und der globale Süden mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Augenhöhe begegnen.