Forscher um Dirk Albach vom Institut für Biologie und Umweltwissenschaften sind dem Erfolgsgeheimnis der weit verbreiteten Pflanzengattung Veronica auf der Spur. Dabei beschäftigen sie sich mit einer der aktuellsten Fragen der Biologie: Was ist eigentlich eine Art?
Prof. Dr. Dirk Albachs Schatz befindet sich in einem fensterlosen Raum im Erdgeschoss des Gebäudes W04 an der Universität. In zwei blauen Metallschränken bewahrt der Biologe und Direktor des Botanischen Gartens etwa 15.000 sogenannte Herbarbelege auf: gepresste Pflanzen, möglichst von der Wurzel bis zur Blüte. Mit dünnen Klebestreifen sind die getrockneten Gewächse sorgfältig auf hellen Papierbögen befestigt. Jedes Blatt ist wiederum in braunes Papier eingeschlagen und wird gemeinsam mit den Belegen verwandter Pflanzen in dicken, grünen Mappen gesammelt.
Rund tausend der Oldenburger Herbarbelege zählen zur Gattung Veronica, auf Deutsch: Ehrenpreis – einer Gruppe, mit der sich Albach bestens auskennt. Das entscheidende Kennzeichen der rund 450 weltweit bekannten Ehrenpreis-Arten ist ihre blaue Blüte. Alle Vertreter der Gattung haben vier meist rundliche Blütenblätter, in der Fachsprache Kronblätter genannt, und zwei Staubblätter. So bezeichnen Botaniker die dünnen Staubfäden und Staubbeutel mit den Pollen. Bei der Form und Beschaffenheit der Blätter, der Größe und der Anordnung der Blüten zeigt der Ehrenpreis jedoch eine erstaunliche Vielfalt: Manche Stängel sind behaart, andere glatt, einige Arten wachsen kriechend und haben nur millimetergroße Blüten, andere werden mehrere Meter hoch und schmücken sich mit kerzenförmigen Blütenständen. Es gibt alpine Arten und solche, die sich an Trockengebiete, Uferstreifen oder Kiefernwälder angepasst haben. In Eurasien findet man Veronica-Spezies von den Britischen Inseln bis nach Japan, sie wachsen im Himalaja, auf Grönland, in Nordamerika und Neuseeland – und natürlich auch auf dem Oldenburger Campus.
Wie definiert man eine Art?
An der weit verbreiteten Gattung interessiert Albach besonders ihre erstaunliche Fähigkeit zur Hybridisierung, also zur Bildung von Mischformen: Unter den europäischen Vertretern gibt es derart viele Kreuzungen, dass sich manche Exemplare kaum einer bestimmten Art zuordnen lassen. Einige Merkmale, die ursprünglich zur Bestimmung herangezogen wurden, existieren in Wahrheit als kontinuierliches Spektrum. Offenbar vermischen sich die Pflanzen bereits seit Jahrtausenden immer wieder, so dass manchmal nur schwer zu sagen ist, welche Arten „stabil“ sind – sich also nicht ständig durch Einkreuzungen verändern. „Wir wollen verstehen, warum manche Hybride überleben und sich zu neuen Arten weiterentwickeln und andere nicht“, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe Biodiversität und Evolution der Pflanzen.
Albach leitet zwei Forschungsprojekte, die sich mit der Geschichte der Gattung Veronica beschäftigen, die wahrscheinlich vor rund 15 Millionen Jahren irgendwo in Asien begann. Seit 2016 untersucht er in einem von der VolkswagenStiftung geförderten Vorhaben gemeinsam mit Forschern aus Russland und der Ukraine Varianten der Art Veronica spicata, des Ährigen Blauweiderich, die sowohl im sibirischen Altai-Gebirge als auch in den Steppen Eurasiens und in Zentraleuropa vorkommen. Zudem ist er am Schwerpunktprogramm TaxonOMICS der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beteiligt, das die Frage untersucht, was überhaupt eine biologische Art ausmacht. Albach leitet dort das Teilprojekt „Typusbelege und Genome – Lösen eines Konfliktes am Beispiel häufig hybridisierender Arten der Gattung Veronica“. Er und seine Kolleginnen und Kollegen isolieren DNA-Proben aus Jahrzehnte alten Herbarbelegen. Sie unternehmen Exkursionen zu Standorten, von denen sogenannte Typusbelege stammen – also Exemplare, die die Grundlage für die Beschreibung einer Art bilden – und sie vergleichen Aussehen und Erbmaterial neuer, im Freiland gesammelter Pflanzen.
Evolution während der Eiszeit
Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die Veronica-Arten im Altai-Gebirge leichter voneinander zu unterscheiden sind als in Zentraleuropa. In dem entlegenen Gebirgsmassiv im Grenzgebiet von Kasachstan, Sibirien, der Mongolei und China treten zwar auch Hybride auf, doch lassen sich diese besser auf die ursprünglichen Spezies zurückführen. Die Veronica-Arten in der Ukraine dagegen stellen Albach noch vor ein Rätsel. „Das Muster der Hybridisierungen in der Ukraine ist sehr komplex, das haben wir noch nicht verstanden“, berichtet er. Im kommenden Sommer plant der Forscher eine Exkursion ins benachbarte Südrussland. In diesem von Botanikern selten besuchten Gebiet will er dem Rätsel auf die Spur kommen, warum die Arten im Altai-Gebirge stabiler sind als weiter im Westen.
Sein Verdacht: In Zentraleuropa könnten die Hybriden schon während der letzten Eiszeit entstanden sein, die vor etwa 100.000 Jahren begann und vor 10.000 Jahren endete, während sie im Altai erst in jüngster Zeit entstanden. Während der Eiszeiten waren große Teile des Kontinents von Gletschern und karger Tundra bedeckt. Pflanzen wie der Ehrenpreis zogen sich in Refugien mit milderen Temperaturen zurück. In kleinen Populationen entwickelten sich die Gewächse getrennt weiter. „Als die Eiszeit endete, breiteten sich die Pflanzen von den verschiedenen Refugien wieder über den Kontinent aus“, erläutert Albach. Er vermutet, dass es der Gattung Veronica durch Kreuzungen schnell gelang, sich an neue Lebensräume anzupassen. So konnten die Hybride den verödeten Kontinent nach dem Rückzug der Gletscher rasch besiedeln. „Womöglich macht ihre Fähigkeit zur Hybridisierung die Gattung so erfolgreich“, sagt der Botaniker.
Spuren fremder Arten im Erbgut
Der vielseitige Ehrenpreis wirft damit Licht auf eine der aktuellsten Fragen der Biologie: Was ist überhaupt eine Art? Der klassischen Definition zufolge umfasst eine biologische Spezies eine Population von Individuen, die sich gemeinsam fortpflanzen, dabei fruchtbare Nachkommen hervorbringen und genetisch von anderen Populationen getrennt sind. „In der Biologie haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene Artkonzepte entwickelt, die sich meist an gerade neu entwickelten Methoden orientierten“, berichtet Albach. In den 1930er Jahren war das zum Beispiel die Beobachtung der Chromosomen. Später ließ sich mit Elektronenmikroskopen die Form von Pollen untersuchen, in den 1990er Jahren wurden DNA-Analysen populär.
In den vergangenen Jahren hat sich allerdings immer stärker gezeigt, dass selbst das Erbmaterial DNA nicht immer eindeutig zeigen kann, welcher Art ein Exemplar angehört. Denn Lebewesen tauschen viel häufiger Gene untereinander aus als man lange angenommen hatte. Sogar im Erbgut des Menschen finden sich Spuren fremder Arten, etwa des Neandertalers oder des in Asien heimischen Denisova-Menschen.
„Mittlerweile gibt es in der Evolutionsbiologie einen Trend zu einer ganzheitlicheren Betrachtungsweise“, sagt Albach. Um eine Art zu definieren oder zu erkennen, dass zwei Populationen auseinanderdriften, müsse man verschiedene Merkmale betrachten. Auch im Zeitalter der Molekulargenetik sei dabei für Evolutionsbiologen eines nach wie vor entscheidend: Das untersuchte Lebewesen genau zu kennen. Manche Veronica-Arten unterscheiden sich beispielsweise nur durch feinste Details – etwa durch leicht unterschiedlich geformte Haare oder kaum sichtbare Einkerbungen der Blätter.