Wie wird Musik politisch eingesetzt? Mit dieser Frage beschäftigt sich Musikpädagoge Mario Dunkel. Unter anderem erforscht er die westdeutsche Musikdiplomatie während des Kalten Krieges. Im Interview spricht er über die Besonderheiten dieser Zeit.
Herr Professor Dunkel, warum spielt Musik eine besondere Rolle in der auswärtigen Kulturpolitik?
Musik ist eine Kommunikationsform, die auch ohne Sprache funktioniert. Als solche hat sie etwas Verbindendes über Sprachbarrieren hinaus. Außerdem hat sie häufig etwas Partizipatives – man beteiligt sich hörend oder dadurch, dass man tanzt. Das sind Eigenschaften, die Musik für Kulturprogramme besonders geeignet machen. Außerdem ist Musik wichtig für die Vorstellung von nationalen Gemeinschaften. Das sehen wir jedes Mal, wenn bei der WM oder EM die Nationalhymne gespielt wird und an den heftigen Diskussionen darüber, ob die Fußballer sie mitsingen sollen oder nicht. Musik lässt sich politisch also ganz bewusst einsetzen.
Wo zeigt sich die politische Rolle von Musik noch?
Musik kann in ganz unterschiedlichen Kontexten politische Funktionen einnehmen. Bei der Untersuchung von Musik in der auswärtigen Kulturpolitik schaue ich mir einen Teilbereich politischer Musik an, bei dem Regierungen in Musikpolitik direkt oder indirekt involviert sind. Wenn bei einem Treffen von Politikern, beispielsweise beim G20-Gipfel, Beethovens Neunte in der Elbphilharmonie gespielt wird, hat die Musik eine diplomatische Funktion.
Sie erforschen vor allem die westdeutsche Musikdiplomatie zu Zeiten des Kalten Krieges. Was interessiert Sie an dieser Zeit?
Ich habe mir angeschaut, wann welche Arten von Musik eingesetzt wurden und in welchem Zusammenhang etwa. In den 1960er Jahren hat sich in der Kulturpolitik viel verändert. Damals gab es verstärkte Initiativen, westdeutsche Musiker ins Ausland zu schicken, um dort nachhaltig wirksame Bildungsarbeit zu leisten. Gleichzeitig hat man sich davon gelöst, den Fokus allein auf die europäische Kunstmusiktradition zu legen.
Woher kam dieser Umbruch?
Der ist vor allem durch einzelne Goethe-Institute entstanden. Damals gab es zwischen dem privaten Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt noch keinen Rahmenvertrag, der die Zusammenarbeit regelte. Dadurch waren die Zweigstellen ziemlich unabhängig und konnten auch Initiativen starten, die in der auswärtigen Kulturpolitik sonst eher nicht stattgefunden hätten. So hat das Pariser Goethe-Institut 1963 ein Jazz-Konzert organisiert, das von 2.500 Menschen besucht wurde und sehr erfolgreich war. Daraufhin hat man angefangen, Jazzmusiker als Repräsentanten für Westdeutschland auf Tourneen in verschiedene Länder zu entsenden.
Inwieweit spielte die Kunstmusik zu der Zeit noch eine Rolle?
Es gab auch weiterhin eine prestigeorientierte Art von Kulturpolitik, die über klassische Musik und den Dirigenten als Symbol für deutsche Kultur funktionierte. In den frühen 1960er Jahren äußerten beispielsweise verschiedene südostasiatische Regierungen das Bedürfnis, westliche Dirigenten zu engagieren, um ihre Orchester auszubilden. Denn mit Orchestern war zu der Zeit sehr viel Prestige verbunden. Dabei ging es für die Regierungen auch darum, zu signalisieren, dass man im internationalen Wettbewerb mithalten kann.
Können Sie einen konkreten Fall nennen?
1960 hat der südvietnamesische Präsident Ngô Đình Diệm die westdeutsche Regierung um einen Dirigenten für das Saigoner Symphonieorchester gebeten. Das Auswärtige Amt hat daraufhin den Dirigenten und Musikpädagogen Otto Söllner, Generaldirektor der Trierer Oper, entsendet. Aus Sicht des Auswärtigen Amts war Söllner in Südvietnam sehr erfolgreich, man hat seinen Aufenthalt immer weiter verlängert. Irgendwann hat die Südvietnamesische Regierung das Orchester zu einem offiziellen Nationalorchester gemacht, das dann auch einem Ministerium unterstellt war.
Das Auswärtige Amt finanzierte also den Leiter des südvietnamesischen Nationalorchesters?
Genau. Die Zusammenarbeit ging so weit, dass Söllner die offizielle Version der südvietnamesischen Nationalhymne arrangierte. Als sich die Regierung das Orchester nach einigen Jahren nicht mehr leisten konnte, wurde Söllner 1963 als Musikpädagoge nach Huế an die nordvietnamesische Grenze versetzt.
Was ist das Spannende an dieser Geschichte?
Verschiedene Dinge werden am Beispiel Söllner gut sichtbar: Einmal, dass es der Politik nicht – wie man vielleicht vermuten könnte – in erste Linie darum ging, Demokratie zu fördern, sondern darum, Allianzen zu schmieden und wichtige Verbündete zu stärken. In dem Fall mit den Amerikanern. Söllner kam ja mitten im Bürgerkrieg nach Südvietnam und blieb dort auch nach Ausbruch des Vietnamkrieges bis 1968. Während das kommunistische Nordvietnam von den Ostblockstaaten unterstützt wurde, hatte Südvietnam die Unterstützung der Westmächte. Zum Zweiten sieht man am Beispiel Söllner, wo die Prioritäten der deutschen Regierung lagen: Als Dirigent eines Prestige-Projekts hatte er ein gutes Einkommen. Später, als er aus Sicht des Auswärtigen Amts „nur noch“ als Musikpädagoge tätig war, wurde sein Gehalt stark gekürzt.
Sie sprechen in einer ihrer Veröffentlichungen auch davon, dass sich die deutsche Seite bisweilen durchaus arrogant gegenüber ausländischer Kultur verhielt. Wie äußerte sich das?
Otto Söllner selbst war offen gegenüber nicht-europäischen Musikkulturen. Er hat mit Komponisten und einem Chor in Südvietnam zusammengearbeitet und verschiedene vietnamesische Volkslieder arrangiert. Gleichzeitig findet man in den Dokumenten unfassbar herablassende Kommentare des westdeutschen Botschafters in Südvietnam gegenüber dem dortigen Orchester, etwa, dass die Musiker vorher alle nicht zusammen gespielt hätten und von Söllner nun endlich lernen würden, wie man mit preußischer Disziplin gemeinsam Musik macht. Hier wird gut sichtbar, wie über Musik eben auch kulturelle Abgrenzungen bekräftigt werden.
Wie hat sich die auswärtige Kulturpolitik in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt?
Man hat sich nach und nach von dem Bild gelöst, dass Westdeutschland ausschließlich durch traditionelle Kunstmusik repräsentiert werden sollte. Nachdem sich die Kulturpolitik in den 1960er Jahren für Jazz geöffnet hatte, kamen in den 1970er Jahren zunehmend Einflüsse der Rockmusik hinzu. In den 1980er Jahren organisierte das Goethe-Institut dann erste Ausstellungen zu Rock und Pop in Deutschland und Musiker der Neuen Deutschen Welle traten im Ausland auf. Auch die Toten Hosen waren schon relativ früh mit dabei. Mit der Zeit hat sich die Kulturpolitik immer mehr für andere Gattungen geöffnet, sodass es heute ein recht vielfältiges Programm gibt. Auf der anderen Seite spielt Prestige weiterhin eine wichtige Rolle, beispielsweise wenn es um politische Empfänge geht.
Verstehen sich die Musiker selbst auch als Diplomaten?
Ganz unterschiedlich. Es gibt Musiker, die von sich selbst sagen, sie seien überhaupt nicht politisch, während andere sich durchaus als verlängerter Arm der Regierung sehen. Es gibt auch solche, die ihre Auftritte nutzen, um die Politik der Bundesregierung zu kritisieren. Wolf Biermann hat in den frühen 1980er Jahren etwa Goethe-Institute als Bühne benutzt, um westdeutsche Politik zu kritisieren. 1980 bezeichnete er den Bundespräsidenten Karl Carstens bei Auftritten an französischen Goethe-Instituten als „Nazi“. Für manche ist es aber auch einfach ein Job: Das Goethe-Institut hat in den 1960er Jahren ganz gut gezahlt – vor allem für westdeutsche Jazzmusiker war das eine wichtige Option, denn es gab keinen großen Markt für ihre Musik.
Interview: Nele Claus